Kuhgebundene Kälberaufzucht

Die wichtigsten Bedürfnisse von Kuh und Kalb

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Was heißt eigentlich „kuhgebundene Kälberaufzucht“?

In der Milchviehhaltung werden Kuh und Kalb normalerweise kurz nach der Geburt voneinander getrennt. Das Kalb wächst ohne seine Mutter auf und wird über einen Eimer oder Tränkeautomaten mit Milch versorgt. Auch in der Biomilchviehhaltung ist dies gängige Praxis. Die kuhgebundene Kälberaufzucht ist daher etwas Besonderes, weil Kuh und Kalb zusammenbleiben dürfen. Das Kalb wächst in Fürsorge der Kuh auf und darf Milch direkt aus dem Euter der Kuh trinken. Wie die Aufzucht genau gestaltet ist, ist von Hof zu Hof verschieden. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist, ob das Kalb an der eigenen Mutter oder an einer anderen Kuh – genannt Amme – aufgezogen wird. Je nachdem spricht man von muttergebundener oder ammengebundener Kälberaufzucht. 

Kuh mit Kälbern
Ein Kalb trinkt bei der Kuh, Foto: © PROVIEH e.V.

Was bedeutet „klassische Aufzucht“?

Darunter verstehen wir die übliche Aufzuchtmethode in der Milchviehhaltung. Dazu gehört die frühe Trennung von Kuh und Kalb, die Haltung von Kälbern in Einzelboxen und die Versorgung mit Milch über Eimer oder Tränkeautomat. Die Aufzucht wird außerdem üblicherweise unterbrochen: Ein Großteil der Kälber wird in den ersten Lebenswochen verkauft und mittels langwieriger Transporte zu spezialisierten Kälbermastbetrieben gebracht. Auf den Milchviehbetrieben sind Kälber so in erster Linie Mittel zum Zweck: Nur durch ihre regelmäßige Geburt bleibt der Milchfluss erhalten.

Im Folgenden wollen wir zeigen, warum die kuhgebundene Kälberaufzucht so viel besser für die Tiere ist. Wie gut das Aufzuchtsystem an die Bedürfnisse der Tiere angepasst ist, hängt jedoch von der individuellen Haltung und dem Management auf den jeweiligen Höfen ab. Welche Kriterien aus Tierschutzperspektive bei der kuhgebundenen Kälberaufzucht mindestens erfüllt sein sollten, wird  unter „Mindeststandards“ erklärt. 

Die Tierschutzperspektive – Kuh und Kalb gehören zusammen

Liebevolle Fürsorge, Foto: © PROVIEH e.V.

Fürsorge für das Kalb

Ein wichtiger Aspekt der kuhgebundenen Kälberaufzucht ist neben dem Saugen am Euter auch die Fürsorge, die das Kalb durch die Kuh bekommt. Das intensive Belecken des Kalbes fördert dessen Durchblutung und hat daher eine positive Wirkung auf die Gesundheit. Außerdem nimmt die Kuh so oberflächlich vorhandene Keime auf, wodurch der Keimdruck insgesamt reduziert wird. Ansonsten wird das Kalb durch die Kuh regelmäßig zum Trinken aufgefordert und erfährt Schutz und Zuneigung durch das ältere Tier.

Die Bedürfnisse der Kuh

Die kuhgebundene Kälberaufzucht bringt auch Vorteile für die Kuh. Als Säugetier hat die Kuh ein inniges Bedürfnis danach, ein Kalb aufzuziehen. Auch wenn sie dieses Verhalten niemals vorher gelernt haben, wissen Kühe nach der ersten Geburt meist instinktiv, wie sie das neugeborene Kalb versorgen müssen. Zwischen Kuh und Kalb entwickelt sich schon nach wenigen Tagen eine enge Bindung. Sie erkennen sich anhand von Lauten und Geruch und können sich so auch in der Herde verständigen. Verwandtschaftliche Beziehungen bleiben meist ein Leben lang bestehen und zeigen sich durch ausgesprochene Nähe und Fürsorge der Tiere untereinander. 

Grundbedürfnisse der Rinder

Rinder sind Herdentiere und haben ein ausgeprägtes Sozialverhalten. Innerhalb einer Herde gibt es eine stabile Rangordnung, die sich an Alter, Verwandtschaft, Gemüt und physischer Stärke der Tiere orientiert. Die Rinder verständigen sich auf vielfältige Weise miteinander, sei es durch Laute, Kopfbewegungen oder andere körperliche Signale. Um das Wohlbefinden der Tiere zu fördern, sollten sie ihre arttypischen Verhaltensweisen möglichst gut ausleben können. Dafür bietet die kuhgebundene Kälberaufzucht eine gute Grundlage, weil Kälber von Geburt an Kontakt zu Kühen haben und so stabile Beziehungen zueinander aufbauen können.

Besuch bei den HeuMilch Bauern
Rinder sind Herdentiere, Foto © PROVIEH

Täglicher Kontakt zu Artgenossen

Als Herdentiere sollten Rinder nicht einzeln gehalten werden. Eine Einzelhaltung in den ersten Lebenswochen, wie sie in der konventionellen wie ökologischen Milchviehhaltung zeitweise üblich ist, widerspricht erstens dem Wesen der Tiere und schränkt sie zusätzlich in ihrer Bewegung weitgehend ein. Wird das Kalb hingegen an der Seite der Kuh aufgezogen, hat das Jungtier ausreichend Möglichkeiten, sein Sozialverhalten auszuleben. Grundsätzlich ist die Nähe zu anderen Rindern wichtig für das Wohlbefinden des Kalbes und hat einen positiven Einfluss auf dessen Entwicklung. Bei der kuhgebundenen Kälberaufzucht hat das Kalb täglich nicht nur Kontakt zu anderen Kälbern, sondern auch zu auch zu älteren Tieren.

Von anderen Tieren lernen

Kälber grasen gemeinsam, Foto: © PROVIEH

Durch den täglichen Kontakt mit anderen Tieren lernt das Kalb viel über arttypische Verhaltensweisen. So trinken Kälber nach der Geburt nur Milch und müssen erst lernen, als Wiederkäuer später andere Futtermittel zu fressen. Bei der kuhgebundenen Kälberaufzucht konnte beobachtet werden, dass Kälber, die zusammen mit Kühen fressen konnten, erstens schon viel früher und zweitens größere Mengen Gras oder anderes Raufutter aufgenommen haben. Die frühere und größere Raufutteraufnahme fördert die Entwicklung des Pansens und sorgt dafür, dass die Kälber besser gedeihen und später eine bessere Futterverwertung aufweisenAuch für die spätere Eingliederung in die Milchviehherde ist es gut, wenn die Kälber schon früh den Umgang mit älteren Tieren geübt haben. So erlernen sie die Verständigung mit den anderen Herdenmitgliedern und finden leichter ihren Platz in der Rangordnung. In der klassischen Milchviehhaltung haben Jungtiere während der Aufzucht nur selten Kontakt zu älteren Artgenossen, weshalb der Eintritt in die erwachsene Herde für die Tiere mit Stress verbunden ist. 

Befriedigtes Saugbedürfnis

Das Kalb hat von Geburt an einen ausgeprägten Saugreflex, der nicht abgestellt werden kann. Bei der Aufzucht an der Kuh kann dieses Bedürfnis durch das Nuckeln am Euter gut befriedigt werden. Dazu reicht meist schon wenig Zeit am Tag aus, verteilt auf mehrere Mahlzeiten. Auf den meisten Höfen mit kuhgebundener Kälberaufzucht haben die Kälber jedoch viel Zeit, um am Euter zu trinken. Wird das Saugbedürfnis nicht gestillt, besaugen die Kälber stattdessen ihre Artgenossen oder die Stallstruktur. Diese Verhaltensauffälligkeit tritt häufiger bei der Aufzucht mit Eimer auf und kann zu Verletzungen bei den Tieren, insbesondere an Nabel und Euteranlage, führen. 

Bessere Kälbergesundheit

Kalb saugt genüsslich am Euter der Kuh, Foto: © PROVIEH e.V.

Die kuhgebundene Kälberaufzucht bietet eine gute Basis für gesunde Kälber. Das Kalb kommt ohne eigenes Immunsystem auf die Welt und ist deshalb in den ersten Tagen besonders schutzbedürftig. Instinktiv umsorgt die Kuh ihr Kalb nach der Geburt, damit der Nachwuchs möglichst bald auf die Beine kommt und den Weg zum Euter sucht. Denn für das Kalb ist es überlebensnotwendig, bereits in den ersten Lebensstunden ausreichend Biestmilch zu trinken. So bezeichnet man die erste Muttermilch nach der Geburt, die neben einer besonders hohen Nährstoff- und Energiedichte auch wichtige Abwehrstoffe enthält. Nur durch die ausreichende Aufnahme dieser Abwehrstoffe erlangt das Kalb eine passive Immunität und ist in den ersten Lebenswochen gut vor Krankheiten geschützt. 

Der Erfolg einer kuhgebundenen Kälberaufzucht liegt jedoch darin, dass das Kalb entsprechend seines Bedarfs Milch trinken darf – so viel es möchte und wann es möchte. Im Vergleich zu den üblichen Aufzuchtverfahren trinkt das Kalb meist mehr Milch, vor allem aber nimmt es häufiger kleinere Mahlzeiten zu sich und trinkt langsamer am Euter. So kann die Milch besser verdaut werden. Außerdem nimmt das Kalb am Euter eine natürliche Trinkposition ein, wodurch der sogenannte Schlundrinnenreflex optimal ausgelöst wird. Die warme Milch gelangt direkt in den Labmagen, wo sie gut verdaut werden kann. Steht das Kalb stattdessen beim Trinken nicht richtig oder trinkt kalte Milch, wird der Reflex nicht richtig ausgelöst. Die Milch gelangt dann in den unterentwickelten Pansen, wodurch es zu Verdauungsstörungen und Durchfällen kommen kann. Die kuhgebundene Kälberaufzucht schafft gute Bedingungen, um das Krankheitsaufkommen bei Kälbern zu reduzieren.

Bessere Entwicklung

Viele Landwirt:innen der kuhgebundenen Kälberaufzucht berichten von einer deutlich besseren Entwicklung der Kälber im Vergleich zur klassischen getrennten Aufzucht. Hauptgrund hierfür sind die höheren Milchmengen, die die Kälber trinken, weshalb sie mehr Gewicht zunehmen. Außerdem ist die Verdauung der aufgenommenen Milch bei der kuhgebundenen Kälberaufzucht meist besser, was sich auch positiv auf die Entwicklung der Kälber auswirkt. Je weniger Verdauungsstörungen, Durchfall und andere Krankheiten auftreten, desto besser kann sich das Kalb entwickeln. Auch die höhere Raufutteraufnahme durch das gemeinsame Fressen mit älteren Tieren sowie die Fürsorge durch die Kuh wirken sich positiv auf die Kälber aus. Insgesamt ist eine gute Entwicklung in den ersten Lebenswochen entscheidend für die langfristige Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Tieres und kann später nicht nachgeholt werden. 

Aufzucht aller Kälber

Das Ziel der kuhgebundenen Kälberaufzucht ist, dass die Kälber bis zum Ende der Aufzucht auf dem Geburtsbetrieb an der Seite der Kühe aufwachsen. Alternativ können Kälber auch zu einem Ammenkuhbetrieb in der unmittelbaren Umgebung gebracht werden. Ein frühzeitiger Verkauf und Transport zu konventionellen Kälbermastbetrieben sollten eine absolute Ausnahme sein, weil sie Stress bedeuten und die Tiere während der Fahrt nicht versorgt werden können. Außerdem kommt es aufgrund von Stößen und einer hohen Tierdichte im Fahrzeug häufig zu Verletzungen, etwa an den Gliedmaßen. Im der klassischen Milchviehhaltung ist es leider die Regel, dass viele Kälber bereits im jungen Alter transportiert werden. Um das zu vermeiden, schreibt der Mindeststandard der kuhgebundenen Kälberaufzucht vor, dass alle Kälber mindestens drei Monate auf den Aufzuchtbetrieben an der Seite der Kühe aufwachsen. Dadurch ist der Anreiz besonders hoch, die Kälber zu behalten und sie großzuziehen.

Optimal: Aufzucht aller Kälber, Foto: © PROVIEH e.V.

Milch ist für das Kalb bestimmt

Wie bei allen Säugetieren wird mit der Milch der Nachwuchs versorgt – die Milch der Kuh ist also für das Kalb bestimmt. Unter natürlichen Bedingungen trinkt das Kalb direkt aus dem Euter. Kuh und Kalb zusammenzulassen entspricht also am ehesten einer artgemäßen Milchviehhaltung, wie sie von einem Großteil der Gesellschaft auch gefordert wird. Wenn wir schon Milch für menschliche Ernährung nutzen wollen, sollten wir zumindest dem Kalb oberste Priorität bei der Milch, in der Haltung und im Umgang schenken.