Gras unter den Klauen – warum Rinder auf die Weide gehören

Einst zogen Auerochsen in großen Herden durch offene Graslandschaften. Ihre Nachfahren, unsere heutigen Hausrinder, haben vieles von ihren wilden Vorfahren bewahrt – den Verdauungsapparat, den Bewegungsdrang, das Sozialverhalten. Rinder auf der Weide sind ein Bild von Ruhe und Natürlichkeit. Doch für die meisten Kühe und Mastrinder in Deutschland ist diese Haltung längst nicht mehr Alltag. Dabei ist Weidehaltung nicht nur artgemäß – sie wirkt sich auch nachweislich positiv auf Gesundheit, Verhalten und Wohlbefinden der Tiere sowie auf die Umwelt und das Klima aus. Es ist Zeit, dass wir den Rindern wieder geben, was sie wirklich brauchen. 

Warum Rinder grasen sollten 

Vor rund 10.500 Jahren streiften Auerochsen (auch Ur genannt) auf der Suche nach Nahrung in Herden von 20 bis 40 Tieren durch offene Graslandschaften und lichte Wälder. Mit ihren zweigeteilten Klauenhufen waren sie perfekt an das Laufen auf federndem, nachgiebigem Untergrund angepasst. Dabei gab die etwas längere Außenklaue den Weichbodengängern zusätzliche Stabilität, indem sie tiefer in den Boden eindrang. Die tagaktiven Tiere legten täglich, je nach Nahrungsangebot, viele Kilometer zurück. Mit ihrem Viermagensystem waren sie perfekt an die Verwertung der rohfaserreichen Pflanzennahrung angepasst. Über die Vormägen Pansen, Netz- und Blätter-, sowie den eigentlichen Magen, den Labmagen, konnte diese besonders gut aufgeschlossen und verwertet werden. Dafür waren vor allem die speziellen Mikroorganismen im Pansen der Wiederkäuer verantwortlich. Sie zersetzten den Futterbrei, der durch wiederholtes Hochwürgen mit mehreren zehntausend Kauschlägen pro Tag zerkleinert wurde.  

Starker Herdenverband 

Heckrind, eine sog. „Abbildzüchtung“ (Rückzüchtung) zum Auerochsen. Foto: © Annabell Gsödl/stock-adobe.com

Kälber und Heranwachsende lernten von den älteren Tieren. Dazwischen kamen insbesondere die jüngeren Tiere ihrem Spiel- und Erkundungsverhalten nach, während eine Kuh oder der Altbulle über den Kälberkindergarten wachte. Männliche Jungtiere maßen ihre Kräfte und verließen mit Erreichen des Deckalters die Herde. Soziale Interaktionen wie die gegenseitige Fellpflege stärkten den Zusammenhalt der Herde. Kälber tranken bis zu zehn Monate bei der Mutter, wobei jedes Kalb von der Mutter mit einem speziellen Muhlaut gerufen wurde, der dem menschlichen Verständnis nach mit dem eines Namens vergleichbar war. Durch natürliche Auslese waren die Tiere robust und konnten durchaus bis zu 20 Jahre alt werden. Sie trotzten hohen Temperaturschwankungen und Minusgraden. Der letzte Auerochse Europas wurde vermutlich 1667 in Polen erlegt.  

Vom robusten Rind zum hochgezüchteten Leistungserbringer 

Forschungsergebnissen aus dem Jahre 2012 zufolge, stammen unsere heutigen Hausrinder alle von einer kleinen Herde Auerochsen ab. Die Forscher gehen davon aus, dass rund 80 Tiere damals im Nahen Osten domestiziert worden sind.  

Im Lauf der vergangenen Jahrtausende entstanden weltweit vielfältige robuste und an ihren jeweiligen Lebensraum angepasste Rassen. Mit der Spezialisierung und Intensivierung der Landwirtschaft verstärkte sich jedoch, wie bei allen „Nutztieren“, die Zuchtausrichtung auf schnelle Mästbarkeit oder Milchleistung. Dabei ging der Fokus auf Robustheit und Langlebigkeit sehr stark verloren. Was aber bis heute geblieben ist, sind die arteigenen Bedürfnisse der Tiere. Denn in jedem Rind steckt noch heute der wilde Auerochse. 

Warum Stallhaltung statt Weide? 

Unsere heutigen Milchkühe und Mastrinder leben statt auf weitläufigen Weiden überwiegend ganzjährig in Ställen. Kälber wachsen in den seltensten Fällen gemeinsam mit ihren Müttern in Herdenverbänden auf. Nur noch ein Drittel der Milchkühe und sehr wenige Masttiere dürfen Gras unter ihren Klauen und das Sonnenlicht auf ihrem Fell spüren.  

Der Grund: Die Stallhaltung ist (vermeintlich) weniger arbeitsaufwändig und spart Zeit und Geld. Die Tiere können intensiver gefüttert werden und erhalten anstelle von Gras und Heu große Anteile energiereicher sogenannter Mischrationen, die einen hohen Anteil an Getreide, Mais und Soja enthalten. Dadurch fressen die Rinder allerdings schneller, was zu Labmagengeschwüren führen kann. Zudem bedeutet dies auch weniger Beschäftigung und somit Langeweile für die Tiere. Weitere Negativfaktoren sind die Unterdrückung arteigener Verhaltensweisen, die Armut an äußeren Einflüssen durch oftmals geschlossene Ställe, die Enge, hoher Keimdruck und schlechte Luftqualität, Mannigfaltige Erkrankungen sowie Verhaltensstörungen sind die Folge. 

INFOBOX:
Ist die Weide-Kuh besonders klimaschädlich? 

Für die zukünftige Rinderhaltung ist es sehr wichtig, Haltungspraktiken und das Management zu beleuchten und gegebenenfalls zu verändern. Denn hier gibt es wichtige Stellschrauben, welche die „Klimarelevanz“ von Milchkuh wie auch Fleischrind positiv beeinflussen können. Denn grasende Rinder können Kohlendioxid aus der Atmosphäre als Humus im Boden binden. 
Anita Idel, Autorin des Buches „Die Kuh ist kein Klimakiller“ räumte bereits 2010 mit dem aufkommenden Irrglauben auf, dass Kühe schlecht für das Klima sind. Sie erklärte die besondere Rolle der Kuh im Boden-Pflanze-Tier-Gefüge der nachhaltigen Landwirtschaft. Denn die grasende Kuh in einem nachhaltigen Landwirtschaftssystem bietet viele ökologische Vorteile, die zur Verbesserung der Umwelt, des Klimas und der Bodenqualität beitragen können. In einem aktuellen Papier, das in diesem Frühjahr von Martin Häusling (Mitglied des Europäischen Parlaments/ Europabüro Hessen) herausgegeben wurde, beschreibt Anita Idel noch einmal verschiedene Mythen und Missverständnisse bezüglich der Auswirkungen von Rindern auf das Klima und die Ressourcen: (zum Weiterlesen bitte auf den Text klicken)

Mythos 1: Rinder sind schlechte Futterverwerter! 

Rinder sind in der Lage sind, Futter effektiv zu nutzen, das für den menschlichen Verzehr ungeeignet ist, wie beispielsweise Gras. Sie spielen somit eine wichtige Rolle in der Umwandlung von Pflanzen in hochwertige Nahrungsmittel. 

Mythos 2: Rinder sind Klima-Killer  

Rinder werden, besonders aufgrund des Methans, welches während der Verdauung entsteht, als große Verursacher von Treibhausgasen angesehen. Allerdings ist die Klimabilanz von Rindern komplexer. Eine nachhaltige Weidehaltung sowie geeignete Managementpraktiken können die negativen Auswirkungen verringern.  

Mythos 3: Je höher die (Milch-)Leistung pro Kuh desto besser für das Klima  

Eine höhere Milchleistung pro Kuh ist nicht besser für das Klima. Denn bei der Betrachtung der Umweltbilanz muss auch der mit der Steigerung der Milchleistung höhere Futterbedarf bedacht werden, mit dem wiederum Emissionen verbunden sind. 

Mythos 4: Zur Rettung des Klimas: Die Zahl der Kühe halbieren!  

Statt einer drastischen Reduzierung der Rinderbestände sollte die Art und Weise, wie Rinder gehalten werden, verbessert werden, um die negativen ökologischen Auswirkungen zu minimieren. 

Mythos 5: Hoch- und Höchstleistung ist gut für das Klima  

Tatsächlich ist – unabhängig von der Leistung – die Nachhaltigkeit der Produktionsmethoden entscheidend. Hochleistungsproduktion wird oft als effizient angesehen, ignoriert jedoch die negativen Auswirkungen auf Böden, Wasserressourcen und Biodiversität. Nachhaltige Systeme mit geringerer Intensität können langfristig klimafreundlicher sein und die Resilienz der Landwirtschaft erhöhen. Extensiv gehaltene Tiere leisten zudem einen Beitrag zur Erhaltung von Grasland. 

Mythos 6: Rinder verbrauchen besonders viel Land – und Wasser! 

Es wird behauptet, dass Rinder unverhältnismäßig viele Ressourcen benötigen. Dabei wird übersehen, dass sie überwiegend auf Flächen gehalten werden, die für den Ackerbau ungeeignet sind, wie Grasland. Dieses Grasland spielt eine wichtige Rolle für die Kohlenstoffspeicherung und den Schutz der Biodiversität. Zudem ist die Wasserbilanz von Rindern oftmals positiver, als angenommen wird.  Genauer können Sie dazu weiterlesen ab Seite 38 ff: https://www.martin-haeusling.eu/images/Klimaschutz_kleiner_RZ_copi.pdf

Kühe wählen Weide 

Auch die heutigen Rinder in der industrialisierten Landwirtschaft sind ihrer Art entsprechend nach wie vor Weidegänger und Grünfutterfresser. Aktuelle Untersuchungen zeigen: Wenn Milchkühe die Wahl zwischen Stall und Weide haben, wählen sie, abgesehen von heißen Sommertagen, stets die Weide.   

Es gibt allerdings einige Punkte zu beachten, damit es auch Hochleistungs-Milchkühen auf der Weide gut geht: 

  • Aufgrund der hohen Milchleistung benötigen die Kühe eine große Futtermenge, um nicht in einen negativen Energiestoffwechsel zu rutschen, das heißt zu hungern. Ein gutes Weidemanagement wie auch eine angepasste Zufütterung von Kraftfutter ist hier in vielen Fällen zwingend nötig, aber durchaus möglich.  
  • Aufgrund der außerordentlich großen Stoffwechselleistung produzieren diese Milchkühe viel Wärme. Sie vertragen zwar Minustemperaturen im Stall und auf der Weide, bei Temperaturen über 17 Grad Celsius gerät ihr Körpersystem allerdings schnell in einen Stressbereich. 
  • Hilfreich wäre es, wenn bereits bei der Zucht darauf geachtet werden könnte, Bullen einzusetzen, die eine gute Weideeignung haben. Milchviehhalter:innen beklagen, dass in Deutschland bislang jedoch kein Zuchtwert für Weideeignung existiert. Sie können bei der Bullenwahl diesen Aspekt also derzeit nicht ausreichend berücksichtigen. 
Foto: © Jonatan Rundblad/stock-adobe.com

Um der Hitzeproblematik entgegenzuwirken wäre es wichtig, dass schattenspendende Anpflanzungen auf Weiden flächendeckend umgesetzt werden. Ideal wäre im Sommer – insbesondere für Milchkühe – eine Kombination aus kühlerem Stall am Tag und Nachtweide. 

Auch Mastrinder gehören auf die Weide. Hier zeigen Untersuchungen zu Ochsenweidemastprogrammen, dass überschüssige Kälber aus der Milchviehhaltung sehr gut in halbjährlicher Weidehaltung unter minimalem Kraftfuttereinsatz aufgezogen werden können. Für Jungbullen ist die Weidehaltung ebenfalls gut umsetzbar. Für ältere Mastbullen sollten zumindest Auslaufsysteme angeboten werden, wenn Hütesicherheit und Arbeitsschutz nicht garantiert werden können. 

Weide ist artgemäß 

Alle Rinder wollen instinktiv grasen. Wenn sie können, tun sie dies um die zehn Stunden täglich in mehreren Abschnitten. Nachweislich finden in Rindergruppen auf der Weide weniger Rangkämpfe statt. Der Stresslevel der Tiere sowie Verletzungsgefahren sind geringer. Das Liege- und Ruheverhalten kann bestmöglich ausgelebt werden und die Tiere können, wie es ihrer Art entspricht, zu gemeinsamen Zeiten Fressen, Ruhen und Wiederkäuen. 

Der Aufwand lohnt sich 

Foto: © Marco Govel/stock-adobe.com

Weidehaltung ist nachweislich gesünder. Durch den weichen und im Vergleich zum Stallboden hygienischeren Boden sowie durch die Bewegung selbst ist bereits bei sechsstündigem Weidegang in den Sommermonaten eine vielfältige Steigerung der Tiergesundheit festgestellt worden: Klauen, Gliedmaßen und Euter waren durchweg gesünder. Fruchtbarkeitsstörungen und frühe Kälberverluste nahmen ab. Insgesamt war eine höhere Lebenserwartung der Tiere festzustellen. 

Die Erkenntnisse sind eindeutig: Rinder profitieren in vielerlei Hinsicht von Weidehaltung – gesundheitlich, sozial und verhaltensbiologisch. Es ist daher höchste Zeit, dass mehr Kühe und Mastrinder wieder regelmäßig Gras unter den Klauen spüren dürfen. Weideförderprogramme, die Honorierung von Weidehaltung über die freiwilligen Haltungsstufen des Lebensmitteleinzelhandels sowie die Umsetzung der unter der noch amtierenden Bundesregierung beschlossene staatliche Haltungskennzeichnung für Milch und Rindfleisch sind wichtige Schritte in diese Richtung. PROVIEH setzt sich dafür ein, dass artgemäße Haltung nicht die Ausnahme bleibt – sondern wieder zur Regel wird.  

Kathrin Kofent 

10.04.2025

Weitere Infos zu Rindern und der Weidehaltung finden Sie hier: 

https://www.provieh.de/tiere/nutztiere/rinder/

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