Halbzeitbilanz der Ampel-Regierung in puncto Tierschutz

Die Bundesregierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat sich im Oktober 2021 vorgenommen, die Fortschrittskoalition für eine zukunftsfeste Landwirtschaft zu werden. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir nahm sein Amt mit den Worten an, er wolle oberster Anwalt der Tiere und Landwirte werden. Nicht nur deshalb setzte PROVIEH Hoffnung in den Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, der bereits durch seine Zugehörigkeit bei den Grünen von Hause aus eine hohe Tierschutzambition im Parteibuch trägt. Insgesamt verankerte die Koalition zahlreiche Vorhaben zur Verbesserung der Tierhaltung im Koalitionsvertrag.

Aussichtsreiche Koalitionsvorhaben: PROVIEH hatte große Hoffnung

Die Ampel-Koalition versprach mit ihrem Koalitionsvertrag wegweisende rechtliche Verbesserungen: Die Überarbeitung des Tierschutzgesetzes, die Einführung fehlender Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnungen, etwa für Puten, Rinder und Bruderhähne sowie tierschutzrechtliche Verbesserungen in den Bereichen Amputationen, Qualzucht oder Brandschutz – allesamt jahrelange PROVIEH-Forderungen. Auch der deutliche Ausbau von Bio-Landwirtschaft und die Einführung einer gesetzlichen Haltungskennzeichnung gehörten zu Koalitionsvorhaben, für die PROVIEH seit Jahren kämpft.

Ukrainekrieg: Vom fruchtbaren Boden hin zur Krisenzeit in der Agrarpolitik

Die Fortschrittskoalition startete 2021 auf fruchtbarem Boden. Denn in den vergangenen Jahren entwickelte sich von der Landwirtschaft über einflussreiche Gremien wie beispielsweise die sogenannte Borchert-Kommission bis hin zur Breite der Verbändelandschaft die Überzeugung, Landwirtschaft müsse von Grund auf neugedacht werden und bekomme für die große Transformation umfassende politische Unterstützung. Zum Antritt 2021 stand die Branche in den Startlöchern und bot der Ampel beste Voraussetzungen. Der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine veränderte 2021 alles, auch im Bereich Tierschutz. Zunächst standen beim Landwirtschaftsressort und beim Bundeslandwirtschaftsministerium unmittelbare Handlungsanforderungen an, die alle anderen Vorhaben pausierten. Und bis jetzt stellen der knappe Bundeshaushalt und durch den Krieg verursachte Krisen wie die Inflation und Lebensmittelknappheit große Transformationsvorhaben infrage.

Umgesetzte Vorhaben: mehr schlecht als recht

Insgesamt hat die Ampel-Regierung in der krisenerschütterten Zeit zahlreiche Vorhaben für den Bereich Landwirtschaft und Tierhaltung umgesetzt. Jedoch müssen die umgesetzten Vorhaben inhaltlich grundlegend kritisiert werden. So gehen die meisten Bereiche in der Umsetzung am Ziel vorbei, indem überwiegend Tierhaltungssysteme gefördert werden, die als tierschutzwidrig zu bewerten sind.

Gesetzliche Haltungskennzeichnung

Die Einführung einer gesetzlich verpflichtenden Haltungskennzeichnung ist das erste große Gesetz für den Bereich Tierhaltung gewesen. Mit diesem staatlichen Kennzeichen sollte Transparenz hergestellt werden und Verbraucher:innen eine Orientierungsgrundlage zur Bewertung unterschiedlicher Haltungssysteme an die Hand gegeben werden. Von diesem Ziel ist beim verabschiedeten Gesetz leider nicht mehr viel übriggeblieben. Denn das staatliche Haltungskennzeichen, das 2024 anlaufen wird, bringt mit seinen fünf Haltungsformen und seinem kleinen Geltungsbereich mehr Verwirrung als Klarheit mit sich. Der Status quo von Haltungsbedingungen wird in drei Stufen – mit nur minimalsten Verbesserungen – schöngelabelt, während die Freilandhaltung im Kennzeichen gar nicht vorkommt. Das Haltungskennzeichen für die Tierart Schwein gilt zudem nur für den Lebensabschnitt der Mast. Die Haltung von der Geburt über die Ferkelaufzucht bis zum Einstallen in die Mast wird nicht abgebildet. PROVIEH kritisiert das Kennzeichen deshalb und hatte sich viel mehr erhofft. 

Kampagne Haltungskennzeichnung:

PROVIEH hat mit seiner Kampagne „Haltungskennzeichnung jetzt!“ mit aller Kraft für eine bessere Kennzeichnungsform gekämpft. Mit dieser konnten zumindest wesentliche Kriterien wie etwa Stroheinstreu erstritten und schlimmeres im Gesetzgebungsverfahren verhindert werden.

Tierwohl-Privilegierung im Baurecht

Ein weiteres wichtiges Vorhaben der Ampel war die Privilegierung von Tierwohl im Baurecht. Tierwohl fördernde Haltungsformen, wie etwa Schweinehaltung mit Auslauf und Stroh, sollten ohne jahrelang andauernde Genehmigungsverfahren und einem Berg an Bürokratie umsetzbar sein und Landwirte ohne große Hürden ihre Ställe umbauen dürfen. Hierfür sollten Tierwohl fördernde Umbauten eine einfachere Baugenehmigung bekommen. Grundlage für die Bewertung des Tierwohl-Niveaus wurde nun jedoch die just eingeführte gesetzliche Haltungskennzeichnung. Infolgedessen sollen künftig Schweineställe mit Außenklimazugang auch dann erleichtert neu- oder umgebaut werden können, wenn sie noch Vollspalten und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten aufweisen und Einstreu fehlt. Das geht wieder am Ziel vorbei und ist nicht im Sinne des Tierschutzes.  Eine politische Förderung von Tierwohl muss anspruchsvollen Kriterien zugrunde liegen! Hier wurde jedoch wieder einmal eher der Stallbau gefördert als das Tierwohl.

PROVIEH im Bundestag

PROVIEH konnte seine Kritik am Gesetzvorhaben zur vermeintlichen Privilegierung von Tierwohl durch das Baugesetzbuch direkt im Bundestag vortragen. Anne Hamester forderte als Sachverständige in der öffentlichen Anhörung das Gesetzvorhaben im eigentlichen Sinne umzusetzen: Nur Tierwohl-fördernde Haltungsbedingungen dürften baurechtlich privilegiert werden, strukturlose Buchten mit Vollspaltenböden mindern das Tierwohl bei Schweinen und müssten ausgeklammert werden.

Haltungsverordnung für Puten und Elterntiere sowie Brudertiere von Hühnern

Vergleichsweise positiv zu bewerten ist der Vorschlag des Bundeslandwirtschaftsministeriums für einen Abschnitt in der Haltungsverordnung für Puten sowie für Elterntiere und Bruderhähne von Legehennen. Für diese Tiere bestehen noch keine spezifischen gesetzlichen Haltungsmindestkriterien. Die konkreten Vorschläge sind sogar besser als gedacht. Allerdings muss der Platzbedarf bei Puten noch deutlich erhöht werden. Noch immer dürfen bis zu zwei Puten auf einem Quadratmeter gehalten werden. Damit wird das Kürzen der Schnäbel zur Eindämmung des gegenseitigen Pickens in Kauf genommen, welches lebenslanges Leid für die Tiere nach sich zieht. 

Kampagne „Puten jetzt schützen!“

PROVIEH kämpft mit seiner Kampagne „Puten jetzt schützen!“ für eine tierschutzkonforme Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung und fordert: mehr Platz, Auslauf und Struktur in der Putenhaltung. Mehr Informationen dazu finden Sie hier.

Finanzielle Förderung von Tierwohl: gute Voraussetzung, nur die Mittel fehlen

Die Ampel stellte sich als Fortschrittspartei hinter den Umbau der Tierhaltung und hielt koalitionsvertraglich fest, dass Landwirt:innen beim Umbau unterstützt werden sollen. Für den Umbau von Schweinehaltungen wurde ein Förderkonzept erarbeitet. PROVIEH bewertet diesen Gesetzentwurf fast uneingeschränkt positiv: Viel Platz, Einstreu, Zugang nach draußen und intakte Ringelschwänze stellen einige sinnvolle Kriterien dar. Das Problem ist nur, dass die finanziellen Mittel zur Förderung fehlen. Während Expert:innen von etwa vier bis fünf Milliarden Euro jährlicher Fördersumme ausgehen, stellt die Ampel insgesamt eine Milliarde bereit. Das ist ein wichtiger Schritt, der aber noch des Ausbaus bedarf. Von entscheidender Bedeutung ist für den Erfolg des Förderprogramms die Zusicherung einer langfristigen Finanzierung: Nur wenn Landwirt:innen die deutlich erhöhten Kosten einer besseren Haltung auch über eine Legislaturperiode hinaus gesichert wissen, werden Landwirt:innen sich für das Förderprogramm aufgrund der hohen Standards entscheiden.

Umbau der Tierhaltung

Es bedarf einer umfassenden und gesicherten finanziellen Förderung für einen erfolgreichen Umbau der Tierhaltung. Aufgrund der unzureichenden Mittelbereitstellung durch die Bundesregierung hat sich PROVIEH im September an die Agrarminister:innen der Länder gewandt mit der Forderung, dass diese vom Bund eine sichere und ausreichende Förderung erstreiten sollen.

Überarbeitung des Tierschutzgesetzes

Eines der größten Hoffnungsprojekte von PROVIEH ist die Überarbeitung des Tierschutzgesetzes. Immerhin sind die Beendigung der Anbindehaltung, die Reduzierung der Amputationen und die Konkretisierung von Qualzucht bereits im Koalitionsvertrag festgelegt gewesen. Mittlerweile kursiert ein Gesetzentwurf, der den Tierschutz maßlos enttäuscht. Mehr zu den Details und PROVIEHs Strategie diese Bedingungen zu ändern, können Sie auf unserer Kampagnenseite nachlesen.

Anne Hamester, Leitung Facharbeit und Politik

„PROVIEH erkennt an, dass sich die Bundesregierung auch in einer krisenerschütterten Zeit zahlreicher Probleme annimmt, die nach 16 Jahren CDU-geführtem Landwirtschaftsministerium liegen geblieben sind und einer zeitnahen Lösung bedürfen. PROVIEH fordert aber mehr Mut und Disziplin hinsichtlich des Koalitionsvertrages: Wichtigste Vorhaben zur Verbesserung müssen und können noch bis 2025 umgesetzt werden.“ (Anne Hamester, Leitung Facharbeit und Politik)

Verhinderungspartei FDP: Ohne die FDP wäre der Tierschutz weiter

Seit Regierungsantritt wird die Ampel-Regierung im Bereich Tierschutz von der FDP ausgebremst. Bei der Haltungskennzeichnung, beim Baurecht, beim Tierschutzgesetz und bei der Finanzierung: Bei den wichtigsten Vorhaben im Bereich Tierhaltung sorgt die FDP dafür, dass es nicht vorangeht. Sie behindert Gesetzgebungsverfahren und hält beispielsweise das Tierschutzgesetz seit Mai 2023 in der Ressortabstimmung fest, unter anderem weil Finanzminister Christian Lindner persönliche Interessen an jagdführenden Hunden mit kupierten Schwänzen hat. Auch die finanzielle Förderung des Umbaus wird von Lindner unter Verschluss gehalten. Das muss aufhören! Nicht nur im Hinblick auf nur elf Prozent Wähleranteil der FDP ist eine dermaßen undemokratische und auf Stillstand pochende Politik inakzeptabel.

PROVIEHs Appell: Runter von der Bremse, liebe Ampel!

PROVIEH appelliert an SPD, Grüne und FDP endlich mit Geschlossenheit und Tatkraft in die Mentalität der Fortschrittskoalition zurückzukehren. Es ist so viel möglich. Zehntauende Landwirtinnen und Landwirte stehen in den Startlöchern. Molkereien, Fleischereien und Verbände, vom Bauernverband über Umweltverbände bis hin zu PROVIEH, stehen hinter der Transformation. Und 700 Millionen Tiere brauchen jetzt eine starke und wegweisende Bundesregierung mit mehr Mut!

Anne Hamester

23.10.2023

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