Kühe machen Senioren mobil

Tiergestützte Aktivierung auf dem Bauernhof

Tagesbetreuung einmal anders: Auf dem Bauernhof Göhring in Rulfingen schmust Ludmilla Epple mit Hahn Henry. Seit einem schweren Motorradunfall in ihrer Jugendzeit kann sie nicht mehr verständlich sprechen und sicher gehen. Aber sie liebt Berührungen. Da ist sie bei den Bauernhoftieren richtig. Die unterschiedlichen Tierarten und Körperteile fühlen sich alle anders an. Allein das Huhn bietet jede Menge Fühlstoff: weiche Federn und harter Schnabel, feste Klauen und biegsamer Kamm.

Ludmilla behandelt Henry so vorsichtig wie ein rohes Ei

Der ehemalige Textilkaufmann Walter Hirlinger zögert dagegen noch, ein Huhn auf den Arm zu nehmen. Dafür kennt sich der rüstige Senior bestens aus: „Das sind Rhodeländer“, bestimmt er fachmännisch die Hühnerrasse. Überhaupt kennen viele ältere Menschen die „Nutztiere“ noch von früher. Das weckt Erinnerungen: „Du Armer“, bedauert Agnes Müller den Hahn Henry, „musst bald in den Kochtopf“. „Auf keinen Fall“, entrüstet sich Andrea Göhring, Fachkraft für Tiergestützte Therapie und Pädagogik: „Meine Hühner kommen nicht in den Topf. Dazu habe ich sie viel zu gern.“ Viel zu wertvoll sind sie auch. Denn die Biobäuerin hat ihre tierischen Hilfskräfte lange und mit viel Liebe ausgebildet. Wenn Jungtiere auf die Welt kommen, sitzt sie tagelang im Stall. Die neugeborenen Tiere müssen sich erst mit ihrer Besitzerin, dann mit anderen Menschen vertraut machen. Danach müssen sie sich an Rollstühle oder Krücken gewöhnen. Alles Gegenstände, die viele ihrer Klienten brauchen, aber im Bauernhofalltag nicht vorkommen. Die Ausbildung der Tiere schafft enge Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Nur so sind Schwein, Kuh und Co. auch zahm genug für therapeutische Interventionen. Ansonsten würden vor allem Hühner und Schafe schnell die Flucht ergreifen, wenn sich Fremde nähern.

Wie zutraulich die Bauernhoftiere sind, können die Senioren eine Weide weiter erleben. Für die Tiere mobilisieren sie gern ihre Reserven. „Erst letzte Woche hat ein älterer Herr extra seinen Rollstuhl verlassen und ist dreißig Meter gelaufen, um unseren Kühen ganz nahe zu kommen“, freut sich Andrea Göhring. In der tiergestützten Intervention können kurze Strecken große Erfolge bedeuten.

Heute stehen mehr die kleinen Wiederkäuer im Mittelpunkt. Ziege Strolchi begrüßt die Gäste etwas zu stürmisch. Immer wieder reibt sie ihren Kopf an den Besuchern. Dagegen nähert sich Schafbock Fritz viel vorsichtiger. Sanft stupst er seine Gäste mit der Nase an. Sofort strecken sich viele Hände zu ihm aus und streicheln ihn. Die Rollstuhlfahrer müssen sich dabei nicht einmal bücken. Sie begegnen dem Schafbock auf Augenhöhe. „Gerade bei wackligen oder ängstlichen Menschen ist das Schaf das Königstier der tiergestützten Intervention. Und mit ihrer Wolle lässt sich filzen und vieles mehr anfangen“, erklärt Andrea Göhring. Schließlich sollen die Senioren auch ihre Feinmotorik schulen. Das geht am besten mit sinnstiftender Arbeit. Deshalb bereiten die Senioren nach Kaffee und Kuchen das Futter für die Tiere zu. Im Schulungsraum schneiden sie Äpfel klein und brechen hartes Brot für die Schafe. Jeder tut, was er oder sie noch kann. Voller Inbrunst mahlt Walter Hirlinger mit einer alten Kaffeemühle Getreide für die Hühner. Vertraute Alltagsdinge aus alten Tagen bringen Verschlossene wieder zum Reden. Das schafft aber auch der riesige vorbeibrummende Trecker. „Warum müssen die Maschinen heute denn so groß sein? Früher haben wir alles mit der Hand gehackt“, staunt Agnes Müller. Die Tierfreundin blüht auf dem Hof voll auf. Von ihrer beginnenden Demenz ist hier nichts zu spüren. Begeistert verteilt sie am Schluss noch das frisch geschnittene Futter an Kuh Paula, Schafe und Ziegen. „Das war aber kurz“, seufzt sie, als sie als letzte in den Bus der Tagesbetreuung steigt. Andrea Göhring bedankt sich bei ihren Klienten für den Besuch und ihre Hilfe. Auf diesem Bauernhof tun Tiere viel für Menschen und umgekehrt. Das hilft allen.

Anforderungen an die Tiere

Frau Göhring, was bewirken Tiere bei älteren Menschen?

Wenn wir unsere Bauernhoftiere bei der tiergestützten Arbeit einsetzen, stehen sie meist sofort im Fokus der Menschen. Besonders Ältere oder Menschen mit Demenz versuchen schnell, mit den Tieren in Kontakt zu treten, sie zu füttern, zu streicheln oder gar zu halten. Tiere wecken den Wunsch nach Nähe, Zuwendung und das Bedürfnis, ihnen etwas Gutes tun zu wollen. Da die ältere Generation teilweise noch mit Bauernhoftieren zusammenlebte, ist ihnen die damalige Tierhaltung mit Schaf, Kuh und Co. oft noch vertraut.

Sind die Tiere nicht bei der sozialen Arbeit überfordert?

Unsere tierischen Mitarbeiter brauchen ganz besonders unseren Schutz und unsere Aufmerksamkeit. Tiergestützte Arbeit bedeutet immer tiergeschützte Arbeit. Ältere oder Menschen mit Demenz sind in ihren körperlichen Bewegungsabläufen oftmals unberechenbar. Nicht selten haben sie zum Beispiel nach einem Schlaganfall Spastiken oder agieren unkontrolliert in ihren Bewegungsabläufen. Auch Schreien, Weinen oder innere Unruhe, die sich in Form von häufigem Weglaufen zeigt, sind keine Seltenheit. Laute Geräusche, plötzliche Bewegungen oder gröberes Anfassen stresst aber die Tiere, besonders wenn sie es nicht kennen. Daher sollten Tiere im tiergestützten Setting darauf vorbereitet sein, sprich ein Training erhalten haben.

Wie lassen sich Hühner und Kühe trainieren?

Wir halten unsere Tiere ausschließlich zu sozialen Zwecken. Dafür müssen unsere tierischen Mitarbeiter einiges lernen: Grundlage für einen qualitativ hochwertigen Einsatz ist eine vertrauensvolle Mensch-Tier-Beziehung. Deshalb müssen die Tiere fachgerecht sozialisiert und erzogen werden. Aber auch nach der Grundausbildung müssen wir am Ball bleiben. Am besten gelingt das, wenn wir den Tieren Dinge beibringen, die sie sowieso gerne lernen möchten, die also ihren arttypischen Verhaltensweisen entsprechen. Diese sind je nach Tierart sehr unterschiedlich. Ziegen lieben es zum Beispiel zu klettern und auf erhöhte Gegenstände zu springen. Das liegt in ihrem Naturell. Deshalb können wir sie ohne Schwierigkeiten lehren, über Wippen zu gehen, durch einen Parcours zu laufen oder auf ein Podest zu springen. Ein Esel dagegen hat andere Interessen. Die bewegungsfreudigen Wüstentiere gehen zum Beispiel gerne mit uns spazieren. Dagegen machen Tricks wie sich im Kreis drehen, Sitz, Verbeugen und Ähnliches für das Tier keinen Sinn. Die Tiere sollten Spaß an der Aktivität und Begegnung mit Menschen haben und nicht nur kommen, weil sie Futter möchten.

Brauchen auch die Menschen eine Ausbildung?

Die Bandbreite von möglichen Angeboten für Seniorinnen und Senioren auf dem Bauernhof ist sehr groß. Sie reicht von Hofführungen über Aktionstage und erlebnisorientierten Aktionen bis hin zu unterstützenden Hilfs- und Pflegeangeboten. Dementsprechend sollte man sich vorbereiten. Wer so intensiv wie ich tiergestützt arbeitet, dem empfehle ich eine Fachkraftweiterbildung für tiergestützte Intervention. Dort erfahren die Teilnehmenden, wie sie ihre Tiere auf ihre Arbeitseinsätze gut vorbereiten und gezielt einsetzen. Darüber hinaus lernen sie, das tiergestützte Setting professionell durchzuführen und alle notwendigen rechtlichen Aspekte wie Hygienefragen, räumliche Anforderungen usw. einzuhalten.

Andrea Göhring

Weitere Infos

Andrea Göhring hat gemeinsam mit der Journalistin Jutta Schneider-Rapp das Buch „Bauernhoftiere bewegen Seniorinnen und Senioren“ geschrieben. Darin geht es darum, die körperlichen und geistigen Ressourcen von älteren Menschen mit oder ohne Demenz zu stärken. Im Mittelpunkt steht der Einsatz von Kuh und Co.

www.bauernhoftiere-bewegen-menschen.de


Bauernhoftiere bewegen Seniorinnen und Senioren

Tiergestützte Aktivierung rund um Huhn, Kuh und Co.

Andrea Göhring, Jutta Schneider-Rapp

pala-Verlag

208 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-89566-421-2

€ 28,00


Dieser Artikel ist im PROVIEH-Magazin “respektiere leben.” 03-2022 erschienen.

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