„Problem“ Milchkälber
Möglichkeiten und Wege einer zukünftigen Kälberhaltung
Pro Jahr werden in Deutschland mehr als drei Millionen Kälber geboren, die in konventionellen Verfahren aufgezogen werden. Direkt oder kurz nach der Geburt werden sie von ihrer Mutter separiert, einzeln in Boxen oder Iglu-Systemen aufgestallt, und vom Menschen statt von der eigenen Mutter versorgt. PROVIEH wünscht sich die muttergebundene Kälberaufzucht und setzt sich dafür vielschichtig ein, doch derzeit ist diese Form der artgemäßen Kälberhaltung leider noch eine – wenn auch aufstrebende – Nische.
Die statistisch nachweisbare Kälbersterblichkeit in der Milchviehhaltung liegt auf den meisten Betrieben zwischen acht und fünfzehn Prozent. In Einzelbetrieben kann die Sterblichkeit durch schwere Mangelerscheinungen oder massive Erregerlast (meist Durchfall) wesentlich höher (bis zu 70 Prozent!) liegen. Zudem werden nicht alle verstorbenen Kälber und Totgeburten registriert, so dass es eine bisher unbestimmte Dunkelziffer gibt. Es sterben dabei anteilig mehr Bullenkälber als Kuhkälber. Zahlreiche überlebende Kälber leiden unter diversen möglicherweise vermeidbaren Erkrankungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig und reichen von der Betreuung der Muttertiere, dem Geburtsmanagement, der Biestmilchversorgung, der Haltung, der Mineralstoffversorgung, der Fütterung über den Umgang bis hin zum Management, insbesondere der Hygiene, innerhalb der einzelnen Betriebe.
Doch warum ist das so? Fakt ist, dass die Kälber von Milchviehrassen wie die häufigen Holstein Frisian, aber auch Braunvieh oder Jersey sich weniger gut verkaufen lassen als Kreuzungskälber oder Kälber reiner Fleischrassen. Da sie einen geringeren Fleischansatz haben, das heißt, weil sie nicht so schnell zunehmen, können sie schlicht und einfach nicht so gewinnbringend gemästet werden und sind für einige Milchviehhalter eher ein unerwünschtes Nebenprodukt. Marktbedingt sind außerdem die Kälberpreise starken Wertschwankungen unterworfen.
Tierwohl lohnt sich also nicht?
Tatsächlich lässt sich in diesem Zusammenhang beobachten, dass die innere Haltung der Landwirte gegenüber den Kälbern die äußeren Umstände der Tierhaltung widerspiegeln. Dort wo Kälber als ein Minusgeschäft angesehen werden, werden häufig weder viel Zeit und Energie noch Geld investiert. Die Kälber sind ein „notwendiges Übel“ der Milchproduktion. „Schnell nochmal nach den Kälbern schauen“ ist auf diesen Höfen normaler Tenor. Bullenkälber werden zum Teil halbherzig „nebenbei“ versorgt. Ein Erfahrungsaustausch mit Tierärzt:innen und Praktiker:innen zeigte PROVIEH, dass bei fast allen Betrieben immer irgendwo Spielraum nach oben ist, was Fütterung, Gesundheitsmanagement und Haltung angeht, auch bei der weiblichen Nachzucht.
Der Wille ist da, aber…
Es mangelt bei den Tierhalter:innen nicht grundsätzlich am Willen das Tierwohl der Kälber zu verbessern – niemand möchte aktiv etwas Schlechtes für seine Kälber – vielmehr liegt es beispielsweise am Erkennen des Problems selbst. Überdies fehlen Erfahrung, das Wissen sowie die konkreten Ideen, Werkzeuge und der Zugang zu positiven Beispielen. Die Gegebenheiten der Betriebe wie auch die Betriebsleiter:innen selbst sind jeweils außerdem sehr individuell. Hinzu kommt der Aspekt, dass es in keinem Bereich der Milchviehhaltung so wenige übliche fest etablierte gute Versorgungsstandards gibt, wie im Kälberbereich. Viele Betriebe haben in den letzten Jahren immer mehr erweitert, ihren Tierbestand aufgestockt und dabei in neue Ställe für die Milchkühe investiert. Allerdings bleiben der Abkalbe-, Trockensteher- und Kälberbereich oft in den alten Dimensionen bestehen, was zahlreiche negative Auswirkungen mit sich bringt.
Landwirte wollen keine Studien, sondern praktische Argumente und Tipps, die greifbar sind!
Unser Projekt:
PROVIEH möchte das Bewusstsein der Tierhalter:innen sensibilisieren und hinterfragt das „Kälberproblem“ im Austausch mit Wissenschaft, Tierärzt:innen, kritischen Praktiker:innen und Ordnungsinstanzen detailliert und hält nach greifbaren, umsetzbaren Lösungen Ausschau, um mehr Tierwohl zum Kalb in den Stall zu tragen. Ziel ist es, praktische Verbesserungsmöglichkeiten an die Hand zu gegeben, die logisch und umsetzbar sind und einen echten Mehrwert für Tiere und Betriebe schaffen.
Am 3. Februar 2022 starteten wir dafür zunächst eine Online-Vortragsreihe gemeinsam mit der Schleswig-Holsteinischen Tierwohl Multiplikatorin Janna Fritz rund um das Thema „Zukunftsfähige und tiergerechte Kälberhaltung“. Landwirt:innen, Auszubildende der Landwirtschaft, Student:innen der Agrarwissenschaften, Angestellte in der Landwirtschaft, Herdenmanager:innen, landwirtschaftliche Berater:innen sowie alles anderen Interessierten wurden dort mit zwei Vorträgen praxisnah und konkret angesprochen.
In den Vorträgen ging es einerseits um die wesentlichen Tierwohlprobleme im Kälberbereich und andererseits um praktische Verbesserungsmöglichkeiten. Das Wissen wurde thematisch klar gegliedert und allgemeinverständlich für Praktiker:innen und „vor Ort“ umsetzbar aufbereitet.
Im Netzwerk Focus Tierwohl wird fachspezifisches Wissen gebündelt, Erfahrungsaustausch zwischen Praktiker:innen, Wissenschaftler:innen, Berater:innen und anderen Gruppen organisiert und damit die Wissens-Vernetzung innerhalb der Branche ermöglicht und gefördert. In die einzelnen Bundesländer tragen jeweils ein bis zwei Tierwohl-Multiplikator:innen dieses Wissen hinein. Das Herzstück der Arbeit der Multiplikatoren liegt derzeit in der Organisation von praxisnahen Veranstaltungen zu Geflügel, Rind und Schwein. Genauere Infos zu diesem bundesweiten Verbundprojekt finden Sie hier: www.fokus-tierwohl.de
Basics der Kälberhaltung
Die Grundsteine für gesunde Kälber werden bereits bei der bestmöglichen Versorgung und dem richtigen Trockenstellen der Mütter gelegt. Totgeburten sind durch eine gute Tierkontrolle und -beobachtung minimierbar. Eine bestmögliche Versorgung mit der Kolostralmilch legt einen unterschätzen Grundstein für die spätere Gesundheit der Kälber. Denn etwa 75 Prozent der ohne Kontrolle saugenden Kälber nehmen nicht genug Kolostrum auf und sind somit lebenslang anfälliger für Krankheiten. In der Regel werden die Kälber sehr schnell nach der Geburt von ihren Müttern getrennt und müssen somit vom Menschen versorgt werden. Das Kalb sollte so schnell wie möglich nach der Geburt das wertvolle Erstgemelk der Mutter oder zumindest ein Gemisch der hofeigenen Kolostralmilch erhalten. Drei, besser vier Liter, sofern hygienisch ermolken, aufbewahrt und verabreicht, sichern eine gute Versorgung mit den darin enthaltenen herdenspezifischen Immunglobulinen. Essenziell wichtig ist dabei die Hygiene beim Melken, sowie bei Milchkanne, Tränkeimern beziehungsweise -flaschen und den Saugern. Hier explodiert ansonsten bei mangelhafter Reinigung oder beispielsweise nachträglicher Kontamination durch Stallboden etc. sehr schnell der Keimgehalt und mindert damit die positive Wirkung zum Teil erheblich.
Milchfütterung
Die Versorgung der Kälber auf Milchviehbetrieben erfolgt sehr häufig nach alter Manier nur zweimal täglich. Bei Durchfall wird dann noch weniger gefüttert oder die Milchtränke wird mit Wasser verdünnt. Verdünnte Milch ist aber kontraproduktiv, da diese im Labmagen nicht ausreichend gerinnen kann und so die Verdauung noch weiter gestört wird. Wichtig wäre hier stattdessen eine gute Tierbeobachtung, um frühestmöglich Krankheiten zu erkennen und die Ursache mit Hilfe des Tierarztes abzuklären. Nicht selten liegt es schlicht und ergreifend daran, dass das Kalb so hungrig ist, dass es zu hastig trinkt und es dadurch zu Verdauungsproblemen kommt. Schnelle Abhilfe brächte bereits ein Eimernuckelaufsatz mit größerem Saugwiederstand und im zweiten Schritt eine Aufteilung der Gesamtmilchmenge auf mehrere Mahlzeiten. Als optimal für die Entwicklung wird eine ad libitum Tränke empfohlen, also eine Tränke, wo das Kalb beliebig viel Milch zu sich nehmen kann. Zudem sollten Kälber, die an Durchfall leiden, Elektrolyt-Lösungen sowie Puffersubstanzen in Form von Bicarbonat erhalten und dazu ab dem ersten Lebenstag Wasser zur freien Verfügung für sie bereitstehen. Es sollte keinesfalls nicht verkehrsfähige Milch, alsoMilch von kranken oder mit Antibiotika behandelten Kühen, getränkt werden, da dies das Immunsystem des jungen Kalbes zusätzlich schwächt.
Untersuchungen zeigen, dass eine gute Versorgung mit Kolostrum zu gesunden und frohwüchsigen Kälbern führt. Noch mehr, die Tiere bleiben auch im Erwachsenenalter gesünder. Eine nachfolgend weiterführende gute Versorgung in den ersten Lebenswochen fördert überdies das Zellwachstum. Da hier bereits die „metabolische Programmierung“ erfolgt, werden für Bullen die Weichen für hohe tägliche Zunahmen und für weibliche Tiere für eine höhere Milchleistung gestellt.
Für die Betriebsleiter:innen bedeutet dieser Zusammenhang somit, dass es sich tatsächlich rechnet, in eine gute Kälbergesundheit der zukünftigen Milchkühe zu investieren. Bei Bullenkälbern und nicht zur Remontierung oder zum Weiterverkauf als Zuchttier genutzten Kuhkälbern ist dies letztendlich ebenso. Allerdings mästen die wenigsten Betriebe selbst und so steht und fällt der „Mehrwert“ einer guten Versorgung damit, ob die Viehhändler für gesündere, schwerere Kälber mehr zahlen. Hier muss ein Markt geschaffen und der Dialog zwischen den Betrieben und zu den Mästern ausgebaut werden, zum Beispiel über mögliche höhere Preise, Tränke (Vollmilch oder Milchaustauscher) und Zusatzfutter sowie über den Impfstatus der Kälber. Regionale Vermarktungskonzepte können zudem den Absatz sichern und helfen längere Tiertransporte zu vermeiden.
Dokumentation
Insgesamt ist eine Kälberhaltung nur so gut wie das Management auf dem Betrieb. Betriebe, die das Geburtsgewicht und das Absetzgewicht dokumentieren, sind derzeit noch in der Minderheit. Dabei hilft diese einfache Dokumentation Schwachstellen aufzudecken und motiviert durch sichtbare Erfolge in die Immunprophylaxe, eine gute Versorgung und in eine optimale Haltung zu investieren.
Kälberhaltung
Besonders Kälberboxen bedeuten für die Kälber Stress durch Isolation, Reizarmut und zu wenig mögliche Bewegung. Beim Wechsel in die ab der achten Woche vorgeschriebene Gruppenhaltung sind die Kälber dann häufig überfordert. Hier sind überdachte “Kälberdörfer“ (Iglus mit Auslauf) mit Sozialkontakt zu den Nachbarkälbern, idealerweise in Pärchenhaltung, eine mögliche Alternative für die ersten Lebenstage. Zusätzlich bedeuten die Trennung von der Mutter, das Enthornen, der spätere Transport zum Aufzucht- oder Mastbetrieb großen Stress für die Tiere, dem nur durch bestmögliches, schonendes Handling beizukommen ist.Gesetzliche Änderungen – neue Herausforderungen
Auf die Kälberhalter kommen Zeiten des Umbruchs zu, denn es stehen gesetzliche Änderungen an. Bisher gehen auf den meisten Milch- Betrieben Bullenkälber und die überzähligen Kuhkälber ab dem 14. Lebenstag vom Hof und in die Mast. Voraussichtlich ab 2023 müssen Kälber aufgrund einer Anpassung der Tierschutztransportverordnung anstatt 14 mindestens 28 Tage alt sein, bis sie transportiert werden dürfen. Diese Änderung stellt einige Betriebe vor große Herausforderungen. Die Stallkapazitäten müssen erhöht werden. Hinzu kommen die Aufwendungen für Futter, Gesundheit und Versorgung. Die Aufzucht eines Kalbes schlägt mit etwa fünf Euro täglich zu Buche. Verbleibt ein Kalb nun also doppelt so lange auf dem Betrieb, verdoppeln sich die reinen Fixkosten gleichfalls. Es ist aber noch unklar, ob Viehhändler beziehungsweise Mäster diese Mehrkosten übernehmen. Zu befürchten ist, dass die Milchviehbetriebe zumindest auf einem Teil der Mehrkosten sitzenbleiben und dies auf das Tierwohl der Kälber zurückfallen könnte. Hier sind die Betriebe also gefordert, langfristige tragfähige Lösungen zu finden. Damit muss an den Stellschrauben Fütterung, Gesundheitsmanagement und Haltung gedreht werden. Auch die Einführung der Haltungskennzeichnung sollte bereits mit bedacht werden. Die Herausforderung für Milchviehbetriebe besteht darin, tragbare und langfristig sinnvolle Lösungen zu entwickeln. Ein bestmögliches Management für wenig Kälberverluste und gesunde, frohwüchsige Kälber bei einer tiergerechten Kälberhaltung und –vermarktung ist erstmal das Ziel. Auch eine Erhöhung der Zwischenkalbezeit für insgesamt weniger Kälber pro Jahr, eine gute Planung der Remontierung mit einem Puffer von 15 Prozent, Zuchtprogrammkälber/Fleischprogrammkälber mit planbaren Abnahmemengen und kurzer Wertschöpfungskette, die Auswahl von Sperma (Spermasexing) für weibliche Nachzucht und männliche Mastbullen (Kreuzung mit Fleischbullen) spielen hierbei eine wichtige Rolle, um die Kälberzahlen zu senken bzw. Diese gezielt zu planen.
Doch am Ende steht für PROVIEH unumstößlich fest: Das „System-Milch“ mit jährlich mehreren Millionen “überschüssiger Kälber” muss sich insgesamt ändern. Von anfälligen Hochleistungskühen müssen wir wieder mehr zur Haltung von robusten Zweinutzungsrindern kommen und von mutterloser Aufzucht zu einer Förderung der achtsamen, muttergebundenen Kälberhaltung. Dafür setzt sich PROVIEH auch mit der Kampagne “Kuh und Kalb – mehr Zeit zu zweit” ein.
Kathrin Kofent
Dieser Artikel ist im PROVIEH-Magazin 01-2022 erschienen.