Milch auf Schienen als Innovation?

Eine Vision von PROVIEH ist es, dass irgendwann einmal alle Kälber von Milchkühen wieder bei ihren Müttern am Euter aufwachsen dürfen. In der modernen Landwirtschaft ersetzen bislang allerdings der Mensch und zunehmend Maschinen die Mutterkuh. Neugeborene Kälber wachsen einzeln, in Boxen oder Iglus isoliert, heran. Die Milch oder der Milchaustauscher kommen aus dem Nuckeleimer. Hierbei ist die Industrie stetig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten. Eine Innovation der letzten Jahre ist neben dem Milchtaxi nun das „Euter auf Schienen“. 

Hightech = Kälberwohl? 

Neugeborene Kälber in Einzelhaltung sollen „nach dem Vorbild der Natur“ bis zu acht Mal täglich mit dem „CalfRail-System“ versorgt werden. Hygienisch und mit optimaler Temperatur wird in kleinen Portionen aus Milchaustauscherpulver und Wasser die jeweilige Kälbermahlzeit angemischt. Auf Schienen fährt eine Nuckeltränkeeinheit von Kalb zu Kalb. Zwei Minuten darf jedes Tier „Interesse heucheln“ (O-Ton Werbevideo des Herstellers), acht Minuten lang bis zu zwei Liter trinken und dann noch zwei Minuten nachnuckeln. Dann fährt das Euter auf Schienen zum nächsten Kalb in der Reihe. Ein „komplett naturgetreues Tränkeverhalten“ soll dem Kalb so bis zu acht Mal täglich ermöglicht werden.  

Besser als die noch in sehr sehr vielen Milchviehbetrieben übliche zweimal tägliche Eimertränke zu je drei Litern ist dieses System vielleicht, der Kontakt zur Mutter ist jedoch auch durch das tollste Milchtaxi der Welt nicht ersetzbar. Kälber benötigen neuesten Untersuchungen folgend zwölf und mehr Liter Milch am Tag in kleinen Portionen, um sich bestmöglich entwickeln zu können. Zudem sollten IMMER Wasser und Heu angeboten werden. Auch eine Mineralstoffversorgung in den ersten Tagen ist essenziell wichtig und kann über Lecksteine, Leckmassen oder über Kälbermüslis mit Beimischung erfolgen. Eisen sollte im Idealfall gespritzt werden. 

Kuh versus Technik 

Tatsächlich trinken junge Kälber bei der Mutter acht- bis zwölfmal täglich für ungefähr zwölf Minuten. Und in den ersten Lebenstagen sondern sich Kuh und Kalb von der Herde ab und suchen die Ruhe. Wenn nun aber frisch geborenen Kälber über zwei bis acht Wochen weder nennenswerten Kontakt zu Altersgenossen, Müttern oder Ammenkühen noch dem Menschen haben, weil eine Maschine die Versorgung übernimmt, kann das dann gut und richtig sein? Ist das auch nur annähernd artgemäß? Und wieviel kostet den Landwirt solch ein Hightech-System? Wäre es da nicht wirtschaftlicher die Kälber mutter- oder zumindest ammengebunden aufzuziehen?  

Als Kompromiss zwischen „Mama und Hightech“ wäre lediglich folgende Übergangslösung denkbar: von Anfang an gleichgeschlechtliche Paarhaltung in Kälberdörfern mit Sicht- und Berührungskontakt sowie Auslauf und schnellstmögliche Gruppenhaltung. Getränkt werden sollte Vollmilch ad libitum plus die oben genannte Bereitstellung von Wasser, Heu und Mineralstoffen. Zudem sollten bei Durchfall zusätzlich zur Milchtränke Elektrolyt- und Pufferlösungen verabreicht werden. Wichtig ist außerdem der regelmäßige Kontakt zu Menschen, um eine bestmögliche Mensch-Tierbeziehung zu gewährleisten. Das endgültige Ziel für PROVIEH bleibt aber die Umsetzung unserer Vision einer muttergebundenen Kälberaufzucht für alle Milchrinder, da diese die tierfreundlichste Aufzuchtform darstellt.  

Kathrin Kofent 

Lesen Sie auch:

06.05.2022

Beitrag teilen