Lebbare Lösungen für die „überflüssigen Kälber“
“Bayerns Kälber – Ballast oder Chance?”. So lautete der Titel der Zusammenkunft im bayerischen Landtag Anfang März 2022. Die Landes-GRÜNEN griffen das Thema der ungewollten Kälber in Bayern sowie bundesweit auf. In unterschiedlichen Vorträgen wurden der Status Quo und mögliche Auswege vorgestellt und diskutiert. Ähnliches erfolgte auf einer Anhörung im baden-württembergischen Landtag wenige Tage später.
Dieser Bericht stellt einen Querschnitt zu dem allgemeinen Stimmungsbild dar, berichtet exemplarisch aus einigen Vortragsinhalten, fasst die gezogenen Schlüsse zusammen und gibt einen Ausblick in Sachen „Kälberproblematik”.
Vorab: Ein paar Fakten zu Kälbern in der Milchviehhaltung
Die Spezialisierung der Betriebe und damit einhergehend die einseitige Züchtung auf Milchleistung hat zu fast wertlosen, für die Mast ungeeigneten Kälbern geführt. Bullen wie Kuhkälber bestmöglich aufzuziehen, kostet Zeit, Geld und Wissen. Durch zu geringe Wertschöpfung und Wertschätzung sind die Landwirte nicht erst seit kurzem in finanziellen Nöten. Die Milchvieh-Kälber, nicht nur in Bayern und Baden-Württemberg (s.u.), sondern deutschlandweit, sind zudem vielfach nicht ausreichend versorgt. Dies berichten Tierärzte und zeigen Untersuchungen. Die Kälbersterblichkeit ist zudem zu hoch.
Da der Markt in Deutschland fehlt, gehen bundesweit über hunderttausende Kälber ab den 14. Lebenstag auf lange Tiertransporte nach Spanien und in die Niederlande. Dies betrifft konventionelle- wie auch bio-Betriebe gleichermaßen. Während in diesen Ländern Kalbfleisch beliebt und die Kälbermast üblich ist, ist in Deutschland Rindfleisch aus den Färsen, Ochsen und vor allem Bullenmast nachgefragt. Im Land verbleiben vor allem die Kälber der Fleischrassen oder Kreuzungskälber, die sich gewinnbringender mästen lassen.
Bayerns Kälber – Ballast oder Chance?
“Wenn wir nichts ändern, dann geht es bei der Kälberproblematik in Richtung Kükenschreddern.”, so Gisela Senger, Mitglied des Landtags (MdL) und Sprecherin für Agrarpolitik der bayerischen GRÜNEN bei der Anhörung am 4. März. Ab 2023 dürfen Kälber, durch Inkrafttreten einer neuen Regelung in der Tiertransportverordnung, erst ab den 28. Tag transportiert werden. Dies sei eine kleine Schraube, so Paul Knoblach (MdL und Sprecher für Tierwohl MdL der Grünen Bayern). Darüber hinaus müssten aber weitreichende Bereiche angegangen werden. Hierzu gehöre eine Abkehr von hochgezüchteten Rassen, die Haltung und die kritische Hinterfragung der frühen Trennung von Kuh und Kalb. Tierhaltung müsse weitergedacht werden.
Ein gebräuchliches Argument für die Entscheidung, dass Kälber erst später transportiert werden sollten, ist, dass gerade in der Zeit um den 14. Lebenstag die Immunologische Lücke (der Übergang zwischen passiver Immunität durch die Kolostralmilch zur aktiven, eigenständigen Immunität des Kalbes) die Kälbergesundheit sehr belaste. Dr. Ingrid Lorenz vom Tiergesundheitsdienst Bayern, FA Rindergesundheit hingegen zeigte in ihrem Vortag “Mythos Immunologische Lücke” eine andere Betrachtungsweise. Ihrem Verständnis nach existiere dieses Lücke in der Natur so nicht. Eine derartige „Sollbruchstelle“ sei natürlich nicht existent, da grundsätzlich eine ausreichende Kolostrumversorgung dies abfangen würde. Immunschwache Kälber seien ein menschengemachtes Problem. Durch die Züchtung auf Milchleistung habe die Qualität der Kolostralmilch zum Nachteil des Kalbes gelitten. Weiterhin sei es eine leider eine verbreitete Fehlannahme, dass man Kälber möglichst billig am Überleben halten müsse, bis sie Festfutter aufnehmen könnten. Vielmehr seien drei bis vier Liter Kolostrum binnen zwei Stunden nach der Geburt sowie eine ad Libitum Tränke in den ersten Lebenswochen ein Garant für gesunde und frohwüchsige Kälber. Seit 50 Jahren halte sich der Mythos, dass größere Mengen Milch Durchfall verursachen. Zum Teil würden die jungen Kälber aus diesem Grunde in Nordbayern auf manchen Höfen sogar nur mit vier Litern Gesamtmenge pro Tag versorgt. Das sei viel zu wenig und nur die Hälfte dessen, was eigentlich für eine optimale, gesunde Entwicklung nötig wäre. Dieses Wissen sei bereits seit 20 Jahren bekannt und es gäbe dazu viele Untersuchungen, dass eine drei- bis vierwöchige Tränke ad libitum das Optimum sei. Zu Milchaustauscher sei zu sagen, dass dieser durch seine geringere Energiedichte gegenüber Vollmilch nicht optimal sei. Seit fünf Jahren arbeite man in Bayern darauf hin, dieses Wissen in die Betriebe zu tragen und es sei viel Überzeugungsarbeit nötig. Die besonderen Kleinstrukturen in Bayern würden zudem den Informationsfluss an die über 20.000 Betriebe erschweren.
Weitere sehr interessante Vorträge folgten (Infos zu den Folgevorträgen sowie ein Fazit der bayerischen Veranstaltung finden Sie hier: https://paulknoblach.de/knoblach-kaelber-muessen-besser-versorgt-werden/)
In der abschließenden Diskussion war man sich einig, dass das vornehmlich auf einzelnen privaten Initiativen beruhendes Engagement und die aufschlussreichen Forschungsarbeiten bereits eine wertvolle Vorarbeit geleistet hätten. Nun sei es wichtig die Projekte in die Breite zu bekommen. Hierbei müsse die Landespolitik eine größere Rolle spielen.
Die GRÜNEN stellten einen Antrag für eine gezielte Förderung der kuhgebundenen Kälberhaltung für Kälber aus Milchviehbetrieben. Dieser soll im nächsten Landwirtschaftssausschuss des Bayerischen Landtags diskutiert werden.
Baden-Württemberg: Perspektiven für heimische Kälber
Im Baden-Württembergischen Landtag kamen in einer Anhörung am 08.03.2022 ebenfalls Expert:innen zum Thema “Neue Perspektiven für heimische Kälber” zu Wort, und es wurde umfassend diskutiert.
Mareike Herrler (Universität Hohenheim, WertKalb: https://oekolandbauforschung-bw.uni-hohenheim.de/wertkalb_hintergrund) berichtete beispielsweise von Ergebnissen einer Verbraucherumfrage, die zeigt, dass ethisch hergestellte Produkte ein hohes Marktpotenzial haben. Besonders die kuhgebundene Kälberhaltung, gefolgt vom Einsatz von Zweinutzungsrassen und einer stressfreien Hofschlachtung spielen für den Verbraucher als Merkmale eine sehr wichtige Rolle. Dem gegenüber sind Label wie beispielsweise „Zweit zu zweit – für Kuh + Kalb” von den HeuMilch Bauern weitestgehend unbekannt. Somit müsse parallel zur Schaffung eines Bewusstseins für die Kälberproblematik zeitgleich auch die Bekanntheit der derzeit vor allem regionalen Produkte und Produktmarken gefördert werden. Wichtige Wege und Möglichkeiten seien Convenience Fleischprodukte (regionale Spezialitäten wie Maultaschen mit Kalbfleisch, ebenso aus der Region), Crossmarketing also eine Kopplung von Milch und Fleisch im Vertrieb, die Einbindung der Gastronomie und von Gemeinschaftsverpflegungen. In Planung sind zudem Experimente zur Kaufbereitschaft im Lebensmitteleinzelhandel sowie in Betriebskantinen. Alles im allen müssten Strategien immer an die jeweiligen Betriebe angepasst werden.
Vertreter der Rinderzucht wünschten sich für die jährlich 160 bis 180.000 Bullenkälber in Baden-Württemberg gezielte Maßnahmen auf Konsumentenseite. Man dürfe nicht von „unwanted animals“ (unerwünschten Tieren) sprechen, eher fehle eine Kalbsfleischtradition wie in den Niederlanden und in Spanien. Man müsse zudem ein schnelles und umsetzbares Maßnahmenbündel diskutieren, um einen flächendeckenden Standard für akzeptable Kälbertransporte etablieren zu können. Hierzu würden Untersuchungen zu Gewicht, Dauer, Tränke, etc. fehlen. Die 28 Tage seien Bauchgefühl und hätten nichts mit Fachwissen zu tun. Es bestünde ein erheblicher Forschungsbedarf! Verlässliche Vorgaben für die Planungssicherheit von Betrieben seien dringend nötig. Man sei bereits an guten Möglichkeiten dran, um weniger Bullenkälber auf den Markt zu bringen. Erhöhte Zwischenkalbezeiten erfordern dabei ein hohes Maß an Management, im Bereich der Zucht stünden die geringen Wirkungen von zwei bis sechs Prozent im Wege, gezieltes Sexen auf Kuhkälber garantiere Leichtgeburten und beschleunige eine gezielte Remontierung. Eine parallele Belegung mit Fleischkälbern sowie Gebrauchskreuzungen erhöhten eine effizientere und damit zugleich klimafreundliche Mast. Außerdem müssten Forschungsprojekte initiiert werden und man sei auch gewillt zu investieren. Kälberfitnesszuchtwerte und Abkalbezuchtwerte seien in Bearbeitung…
Insgesamt wurden vielfältige Aspekte und wichtige Anstöße zur Sprache gebracht. Letztendlich sei der finanzielle Druck für die Landwirte groß und umfassende Alternativen für Bullenkälber fehlten. Gerhard Glaser (GRÜNE) forderte lebbare Lösungen.
In der abschließenden Diskussion wurde herausgestellt, dass Baden-Württemberg bei Kälbertransporten rechtwidrig unterwegs sei, da die EU-Vorschriften nicht eingehalten würden. Unter anderem die Tierschutzorganisation Animals Angels hatte Verstöße nachgewiesen. Laut Verordnung dürften die Kälber maximal 19 Stunden am Stück transportiert werden und müssten dann für eine Versorgung mit Milch/Milchaustauscher und eine anschließende Ruhepause abgeladen werden. Diese Vorschrift sei nicht eingehalten worden.
Anmerkung: Es werden bisher keine Transporter eingesetzt, die zumindest die Wasserversorgung der Kälber auf dem Transport durch spezielle Saugvorrichtungen sicherstellen könnten. Schlimmstenfalls sind somit junge Kälber – nach ihrer letzten Versorgung mit Elektrolytlösung auf den Sammelstellen – bis zu 30 Stunden ohne Flüssigkeitsversorgung unterwegs. Die letzte Milchration ist zum Teil noch weitaus länger her.
Zunächst müsse als Ziel die Reduktion der Kälbertransporte stehen, die den Landwirten ohnehin keine Wertschätzung gebracht hätten. Die unvermeidbaren Transporte müssten dabei bestmöglich abgewickelt werden. Die Politik müsste das „Weniger an Exporten“ dringend unterstützen.
Das seit Oktober laufende Projekt der Europäischen Innovationspartnerschaft für landwirtschaftliche Produktivität und Nachhaltigkeit (EIP-Agri ist ein Förderinstrument der EU mit dem Ziel, Innovationen im Agrar- und Forstsektor zu stärken) zur Haltung von Milchviehkälbern stelle eine innovative Zukunft der Rinderhaltung in Aussicht und weise die Richtung für Haltungsstufe 3 und 4 innerhalb einer verpflichtenden Haltungskennzeichnung. Hier war man sich einig. Gemeinsam mit sich daraus ergebenen Wertschätzungskonzepten müssten zudem regionale Projekte weiter ausgebaut und gefördert werden. Die Bereitschaft zur Veränderung der Landwirte sei da, nun müssten die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Lösungsansätze seien jetzt dringend umzusetzen, um den Bereich der Tierhaltung in eine neue Welt zu bringen. Dies sei die Aufgabe der Politik. Gefragt seien zum Beispiel Agrarförderprogramme für kuhgebundene Kälberhaltung. Dies solle seitens der GRÜNEN vorangebracht werden.
PROVIEH begrüßt den Vorstoß der GRÜNEN und wird weiterhin im Dialog mit Politik, Wissenschaft und Handel stehen und sich dafür stark machen, dass gute Kälberhaltung einen Markt findet, indem wir unter anderem Verbraucher:innen aufklären, Landwirt:innen beraten und uns für die gesetzlich verpflichtende Haltungskennzeichnung einsetzen.
Kathrin Kofent
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