Von freien Rindern und Ohrmarken auf dem Dachboden

Seit 1983 leben die Rinder von Ernst Hermann Maier und seiner Tochter Annette Maier ganzjährig auf insgesamt 80 Hektar Grünlandflächen. An die 300 Tiere grasen frei fast wie einst das Ur, der Vorfahre unserer heutigen Rinder, im gemischten Herdenverband. Sie tragen stolz ihre Hörner, kein männliches Tier wird kastriert und die Kälber wachsen bei ihren Müttern auf. Der Tierarzt muss nur sehr selten kommen, da die Tiere durch eine natürliche Haltung ein starkes Immunsystem entwickelt haben. Kein Tier muss zur Schlachtung unter Stress eingefangen werden. Kein Tier erleidet auf einem Transport und bei der Schlachtung unnötiges Leid. Denn die Maiers dürfen ihre Tiere direkt auf der Weide achtsam und stressfrei per Kugelschuss betäuben und dann werden sie direkt vor Ort in der mobilen Schlachtbox getötet. Dafür hat Herr Maier als Pionier der Weideschlachtung lange gekämpft.

Mit der Gründung seines Vereins “Uria e. V.“  1995 bündelte der „Rinderflüsterer“ Kräfte und sicherte durch Mitgliedsbeiträge das finanzielle Überleben seines so einmaligen Haltungskonzeptes. Doch noch ein weiterer Umstand ist besonders: Die leuchtend gelben Ohrmarken sucht man bei Uria-Rindern vergeblich.

Hintergrund zur Ohrmarkenpflicht

Jungrind mit verletztem Ohr
Foto © Annette Maier

In Deutschland ist seit 1995 entsprechend §19 der „Verordnung zum Schutz gegen die Verschleppung von Tierseuchen im Viehverkehr” (Viehverkehrsverordnung) die Kennzeichnung bei Rindern in den ersten sieben Tagen nach der Geburt sowie bei Schafen und Ziegen seit 2005 in den ersten neun Monaten durch Tierhalter:innen zu veranlassen. Nur gekennzeichnete Tiere dürfen verbracht, abgegeben oder in einen anderen Betrieb eingestallt oder bei einer Schlachtstätte angenommen werden. Alle Tiere werden in der zentralen Datenbank Hi-Tier (Herkunftssicherungs- und Informationssystem für Tiere) registriert. Grund zur Einführung der Kennzeichnung mittels Ohrmarken war unter anderem die BSE-Krise (BSE: “Bovine spongiforme Enzephalopathie” –  eine bei Rindern auftretende schwammartige Rückbildung von Gehirnsubstanz). Im Falle einer Tierseuche soll(t)en Einzeltiere und Herkunftsbetriebe klar zurück verfolgbar sein. Es wurde Vorschrift, Rinder sowie Schafe und Ziegen an beiden Ohren mit gelben Doppel-Ohrmarken zu kennzeichnen, um die Identität der einzelnen Tiere und die Rückverfolgbarkeit der Produkte zu sichern. EU-weit regelt die Verordnung Nr.1760/2000 diese Kennzeichnung.

Schmerz und Stress: Warum die Maiers auf Ohrmarken verzichten

Bei den Maiers lagern Unmengen von Ohrmarken auf dem Dachboden. Aus vielerlei Gründen haben sie sich dagegen entschieden ihre Rinder so zu kennzeichnen.

Uria_Foto_Heiko hellwig
Foto: © Heiko Hellwig

Für das Einziehen der Ohrmarken gibt es keinerlei Vorschriften, was Schmerzausschaltung, Wundbehandlung, Hygienemaßnahmen geschweige denn eine nötige Sachkunde angeht. Ohrmarken sind alles andere als angenehm für die Tiere. Rinderohren (natürlich ebenfalls die von Schafen und Ziegen) sind bewegliche Organe, die stark durchblutet und von vielen Nervenbahnen durchzogen sind. Jede Art von Verletzung führt zu Schmerzen. Das Anbringen der Ohrmarken verursacht einen akuten Schmerz, Wundheilschmerz sowie Hautjucken, aber auch dauerhaft kann es zu Irritationen kommen, wenn Nervenbahnen getroffen werden. Nicht selten entzündet sich das Gewebe um die Ohrmarke, was ebenfalls sehr schmerzhaft sein kann. Die Marken stellen einen Fremdkörper dar, der vom Einzeltier als störend empfunden werden kann. Für die neugeborenen Kälbchen sind die großen Ohrmarken besonders unangenehm. Das Festhalten und Anbringen versetzen das Kalb in Kombination mit dem Schmerz zudem in Stress und Angst. Wenn das Kalb bei der Mutter verbleiben darf (Mutterkuhhaltung, muttergebundene Kälberhaltung) entsteht zusätzlich Stress durch die teilweise nötige Trennung von Mutter und Kalb.  Dies sorgt also insbesondere in Mutterkuhherden unter Umständen für große Unruhe und eine hohe Belastung. Doch auch aus anderen Gründen sind Ohrmarken problematisch. Weidetiere, die beispielsweise im Auftrag des Naturschutzes Wiesenflächen durch Grasen freihalten, verletzten sich schnell, wenn sie sich mit den Ohrmarken in der Vegetation verfangen. Daneben kommt es im Stall bei Rangeleien, bei der Körperpflege oder durch unglückliches Verfangen an Gegenständen zu Verletzungen bis hin zum Ausreißen der Marken. Minderwertige oder unsachgemäß angebrachte Ohrmarken können sich lösen. Es passiert nicht selten, dass bei ein und demselben Tier mehrfach neue Ohrmarken gesetzt werden müssen. Es ist somit nicht ungewöhnlich, dass die Tiere mehr als einmal all den beschriebenen Risiken und Schmerzen ausgesetzt werden. Zudem kommt es jedes Jahr zu zahlreichen Verletzungen bei Tierhalter:innen, weil sich die (erwachsenen) Tiere wehren.

Uria_Ernst Hermann Meier
Foto: © Heiko Hellwig

Microchips statt lästige Ohrmarken

Auch wenn Familie Maier dadurch Cross Compliance Zahlungen (die Bindung bestimmter EU-Agrarzahlungen an Verpflichtungen aus den Bereichen Umweltschutz, Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanze sowie Tierschutz) im sechsstelligen Bereich entgingen, verweigerten sie, ihre Rinder in dieser Form zu kennzeichnen. Statt der Ohrmarkennutzung beschritten die Maiers neue Wege und begannen ihre Tiere alternativ mit einem Mini-Transponder, wie er bereits bei Hunden, Katzen und Pferden verwendet wird, zu kennzeichnen. Allen Kälbern wird linksseitig neben dem Schwanzansatz mittels einer Kanüle der knapp reiskorngroße Computerchip injiziert. Transponder haben zahlreiche Vorteile gegenüber den Ohrmarken. Die Kälber müssen nur sehr kurz fixiert werden. Es wurden weit weniger Abwehr- und Schmerzreaktionen als beim Setzen der Ohrmarken beobachtet, und bei fachmännischer Anwendung kommt es nicht zu anhaltendem oder gar dauerhaftem Leid und Schmerzen. Die Microchips verursachen keine Verletzungen durch Ausreißen, gehen nicht verloren und sind fälschungssicher. Es ist keine Kontrolle nötig und es fallen nur einmalige Kosten an. Doppel-Ohrmarken werden Tierhalter:innen mit durchschnittlich 5,50 Euro je Satz in Rechnung gestellt. Ein Chip mit der deutschen Länderkennung kostet hingegen nur 2,74 Euro. Jede Ersatzohrmarke schlägt für Landwirt:innen noch einmal mit an die 3 Euro zu Buche sowie mit zusätzlichem Zeitaufwand.

Freie Entscheidung für alle Rinderhalter?

Seit April 2021 ist durch Anpassungen auf EU-Ebene die Nutzung alternativer Kennzeichnungsmethoden wie der oben beschriebenen durch Mini-Transponder für „geschlossene Betriebe“ wie den der Maiers zulässig. Trotzdem tun sich die Behörden nach wie vor schwer, hier für entsprechende Betriebe eine offizielle Genehmigung zu erteilen. Die Maiers gehen in ihrer Vision noch einen Schritt weiter. ALLE Betriebsleiter:innen sollen selbst entscheiden dürfen, wie sie ihre Tiere kennzeichnen. Dies sei im heute geltenden gesetzlichen Rahmen bereits durchaus möglich. PROVIEH unterstützt gemeinsam mit anderen Tierschutzverbänden die Idee von Uria e. V., dass Tierhalter:innen sich frei entscheiden dürfen müssen, wie sie ihre Tiere kennzeichnen. Langfristig sollte sich die Chipmethode als alleinige Kennzeichnung EU-weit für alle kennzeichnungspflichtigen „Nutz“tierarten etablieren.

Kathrin Kofent


Infobox: Elektronische Kennzeichnung

Ernst Herrmann Maier argumentiert für den Einsatz von elektronischen Kennzeichnungsmethoden folgendermaßen:

„Der Tierhalter braucht keine Genehmigung für eine elektronische Kennzeichnung, denn §27 Abs. 1 Viehverkehrsverordnung räumt dem europäischen Recht den Anwendungsvorrang ein. Zudem ist ohnehin jeder Rechtsakt der EU verordnungsgemäß in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat. Für die Einführung der Pflichtelektronik bei der Rinderkennzeichnung im gesamten Hoheitsgebiet der Europäischen Union stehen die Rechtsgrundlagen in der VO (EU) Nr. 653/2014 vom 15. Mai 2014 zur Änderung der VO (EG)Nr. 1760/2000 hinsichtlich der elektronischen Kennzeichnung von Rindern und der Etikettierung von Rindfleisch. Gem. Art. 4 Abs. 4 (EU)Nr. 653/2014 sind die Mitgliedsstaaten ab dem 18. Juli 2019 verpflichtet, die nötige Infrastruktur zu stellen, damit die Rinder ordnungsgemäß elektronisch gekennzeichnet werden können. Die Kennzeichnung mittels Transponder ist Rechtsvorschrift und kann von deutschen Behörden schon deshalb nicht ausgesetzt werden, weil es hierfür einer Ermächtigungsgrundlage des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) bedarf. Das BMEL setzt selbst nur das EU-Diktat um, wobei die Länder ja auch nur die Kontrollfunktion einer korrekten Umsetzung im Verhältnis 1:1 erhalten haben. Es gelten jedoch seit dem 21.04.2021 die VO(EU)Nr 2016/429, die delegierte VO (EU)Nr. 2019/2035 und die VO (EU)Nr. 2021/520, welche die Kennzeichnungsvorschriften für Rinder sogar noch weiter gelockert haben. Das Wort Transponder, wie der Microchip ebenfalls genannt wird, ist ein Kofferwort aus Transmitter und Responder. Dieser Microchip ist in allen elektronischen EU-Rinderkennzeichnungsmedien integriert: im Kunststoff der Ohrmarke, im Keramikzylinder des Pansen Bolus oder in der Glaskapsel des injizierbaren Transponders. Die Behörde darf die Anwendung eines solchen Transponders gar nicht untersagen, sondern steht vielmehr in der ordnungsgemäßen Zuteilungspflicht von beantragten injizierbaren Transpondern. Entsprechend muss die Behörde nach Art. 9 Abs. 3 VO (EU)Nr. 2021/520 die beantragten injizierbaren Transponder zur Rinderkennzeichnung zuteilen, da sie die technischen Spezifikationen gem. Anhang I derselben VO erfüllen.“


Dieser Artikel erschien im PROVIEH-Magazin 02-2021.

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