HeuMilch Bauern 2021 – Vielfalt und Entwicklung der mutter- und ammengebundenen Kälberaufzucht

Seit fünf Jahren betreibt die Demeter Erzeugergemeinschaft im Raum Allgäu, Bodensee und Linzgau die mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht auf ihren mittlerweile 36 Milchkuhbetrieben. Von Beginn an hat PROVIEH die Gemeinschaft im Rahmen des Kuh- und Kalb Projektes begleitet und gemeinsam mit ihnen einen anspruchsvollen Mindeststandard zur kuhgebundenen Kälberaufzucht entwickelt. Ende Oktober wurden die spezifischen Anforderungen dieser Richtlinie das dritte Jahr durch PROVIEH auf den Betrieben kontrolliert und mit einer Beratung zur Kälber- und Milchkuhhaltung verbunden. Ein Rück- und Ausblick.

Wie alles begann

Die Erzeugergemeinschaft entschied sich, den weiblichen wie männlichen Kälbern auf ihren Höfen eine angemessene Wertschätzung beizumessen. Ihnen war es zunehmend zuwider geworden, dass ein Großteil ihrer Kälber mit zwei Wochen vom Viehhändler abgeholt wurde und sie nicht wussten, wie es mit ihren Kälbern weiterging. Durften sie weiter auf Demeterhöfen aufwachsen? Unwahrscheinlich. Verblieben sie immerhin in der ökologischen Aufzucht? Auch unsicher. Die Demeter-Bauern wussten: Ihre Kälber würden häufig zu konventionellen Betrieben wechseln und ein Großteil musste sich sogar auf einen langen Transport in Rindermastzentren in Norddeutschland, Holland oder gar Spanien gefasst machen. Das wollten die Bäuerinnen und Bauern nicht weiter hinnehmen.

Verantwortung und Wertschätzung für jedes einzelne Kalb

Foto © PROVIEH

So entschlossen sie sich, all ihre Kälber auf den Höfen großzuziehen und sie in den Mittelpunkt ihrer Milcherzeugung zu stellen: Ohne Kalb keine Milch und damit auch keine Milch ohne Fleisch. Die höhere Wertschätzung ihrer Kälber führte außerdem zum Entschluss, die Kälber wieder artgemäß an der Seite der Kühe aufwachsen zu lassen.

Hier entstand die Zusammenarbeit mit PROVIEH: Gemeinsam wurde der Mindeststandard zur mutter- und ammengebundenen Kälberaufzucht eingeführt. So wurde für alle Betriebe einheitlich und verbindlich festgelegt, dass die Kälber mindestens zwölf Wochen an der Seite der Kühe aufwachsen müssen, dass die Kälber einen eigenen Rückzugsort im Kuhstall brauchen und sie am Ende der gemeinsamen Zeit nicht abrupt, sondern schonend von der Kuh getrennt werden.

Zeitgleich arbeitete die Demeter Erzeugergemeinschaft weiter daran, die nicht auf ihren Höfen zur Nachzucht benötigten Kälber auch nach der Aufzuchtzeit zu behalten und sie selbst zu mästen, statt sie wegzugeben. Der Leitgedanke der gesamten Entwicklung, Verantwortung für alle Tiere zu übernehmen, wurde zur Realität gemacht. Heute wachsen alle Kälber mindestens drei Monate an der Seite von Kühen auf, viele deutlich länger. Außerdem müssen keine Kälber mehr abgegeben werden: Wenn es der Stall, das Futter und die Arbeitszeit zulassen, können alle Kälber für einen Mindestkilopreis über die Erzeugergemeinschaft vermarktet werden.

PROVIEH besucht 36 Betriebe, 1500 Kühe und ihre Kälber

Die Kriterien der Richtlinie zur Kälberaufzucht werden seit der Einführung einmal im Jahr durch PROVIEH kontrolliert und darauf aufbauend auf deren Milch- und Fleischprodukten zertifiziert. Kathrin Kofent und Anne Hamester besuchten hierfür Ende Oktober die 36 Betriebe der HeuMilch Bauern. In zwei Teams fuhren sie vier Tage lang quer durch das Allgäu, den Schwarzwald, rund um den Bodensee sowie durch die Region Linzgau und Oberschwaben.

Auf den Höfen führten sie zum einen die Kontrolle der Richtlinie durch und gaben zum anderen die Möglichkeit einer Beratung, in der sie Probleme und Herausforderungen sowie Erfolge und Strategien in der kuhgebundenen Kälberaufzucht gemeinsam mit den Bäuerinnen und Bauern diskutierten.

Kuh und Kalb zusammen im Stall (Foto © PROVIEH)

Der Hauptbestandteil der Hofbesuche bestand darin, sich die vielfältigen Verfahren der kuhgebundenen Kälberaufzucht erklären zu lassen und diese zu diskutieren. Wo kalben die Kühe, wie verbringen Kuh und Kalb die ersten Lebenstage? Wie ändert sich die gemeinsame Zeit im Verlauf der Aufzuchtzeit? Bleibt das Kalb bei der Mutterkuh, wächst es in der gesamten Herde auf oder werden bestimmte Kühe zu Ammen auserkoren, die dann mehrere Kälber aufziehen? Wie lang sind die Kälber jeweils im Kontakt mit der Kuh – ganztägig, halbtags, beispielsweise wenn die Kühe tagsüber auf der Weide sind, oder nur stundenweise? Richtlinienrelevant sind bei diesen Fragen die Mindestzeit, die Kälber an der Seite der Kühe aufwachsen und die tägliche Zeit, die Kuh und Kalb zusammen sind. Die Mindestzeiten der Richtlinie überschreiten die meisten Betriebe der HeuMilch Bauern und lassen die Kälber deutlich länger bei den Kühen.

Eine wichtige Anforderung der Richtlinie ist, dass Kälber nicht abrupt, sondern schonend von den Kühen zu trennen sind. Denn nach einer gemeinsamen Aufzuchtzeit von über drei Monaten hat sich eine Bindung zwischen den Tieren aufgebaut, die Kälber sind an den Kontakt gewöhnt und von der täglichen Milch am Euter verwöhnt. Bei den Hofbesuchen kamen dieses Jahr, wie auch schon die letzten Jahre, verschiedene Strategien für dieses schonende Absetzen zu Tage. Viele Betriebe verringern nach drei Monaten die Kontaktzeit sukzessive: so kommen die Kälber in den letzten Wochen beispielsweise nur noch zu den Melkzeiten für eine Stunde mit der Kuh zusammen und sind aber den überwiegenden Teil des Tages getrennt von ihr. Ein Großteil der Betriebe entkoppelt wiederum die Trennung von Kuh und Kalb und die Entwöhnung von der Milch. So vermissen die Kälber in den ersten Tagen nach der Trennung in erster Linie die Milchaufnahme. Wenn sie die Milch noch einige Tage über einen Eimer zugefüttert bekommen, ist die Trennung weniger schmerzlich. Synonym dazu entwöhnen andere Betriebe zunächst von der Milch und trennen erst später Kuh und Kalb voneinander, wenn sich das Kalb schon von der Milch entwöhnt hat. Hierfür bekommt das Kalb einen Nose-Flap, eine sogenannte Nasenklappe angesteckt, mit der es nicht mehr an den Zitzen trinken kann. Viele Bäuerinnen und Bauern räumten jedoch ein: ein oder zwei Tage rufen Kuh und Kalb trotz des schonenden Entwöhnens nacheinander, der Trennungsschmerz kann nicht komplett genommen werden.

Foto © PROVIEH

Über die Kontrolle hinaus fragten wir jeden Betrieb, wie zufrieden er oder sie mit der Kälberaufzucht beziehungsweise ihren Kälbern und Kühen ist und wie sie den Gesundheitszustand bewerten. Meist kamen diese Punkte schon während der Betriebsbesichtigung auf. Auch diskutierten wir, welche Herausforderungen und Lösungen der Betrieb in seinen Abläufen kennt und ob er oder sie zukünftig größere Änderungen vornehmen möchte. So entstanden auf den Höfen immer lebendige Diskussionen, Überschneidungen und Lerneffekte von verschiedenen Betrieben mit ähnlichen Problemen und meist reichte die veranschlagte Zeit von anderthalb Stunden nicht aus, um den Hof pünktlich zu verlassen.

Am Ende der Reise stand die Abnahme aller Betriebe, ein großes Sammelsurium verschiedener Umsetzungen der kuhgebundenen Kälberaufzucht und eine Vielzahl an Denkanstößen, neuen Ideen und die Bestätigung von 1400 Kühen und Kälbern: wir gehören zusammen. 2021 hat PROVIEH die Höfe das dritte Jahr in Folge besucht. Für uns ist es sehr interessant, die Entwicklung der Betriebe, der Bäuerinnen und Bauern, aber auch die Entwicklung der Kühe und Kälber in Bezug auf die kuhgebundene Kälberaufzucht zu verfolgen. Nach der Umstellung von der Eimer-Tränke zur kuhgebundenen Aufzucht mussten sich alle erstmal an das neue System gewöhnen, unterschiedliche Verfahren für ihre Herde und ihren Betrieb finden. Und eins ist nach den Jahren klar: in der mutter- und ammengebundenen Kälberaufzucht gibt es kein Schema F.

Foto © PROVIEH

Kuhgebundene Kälberaufzucht verlangt Vielfalt und Flexibilität

Die kuhgebundene Kälberaufzucht verlangt immer betriebs-, herden- und kuhindividuelle Lösungen und braucht ein hohes Maß an Flexibilität und Fingerspitzengefühl. Jeder Stall eignet sich für ein anderes Verfahren, nicht bei jedem Betrieb können oder wollen die Kälber an den Müttern aufwachsen, sondern wachsen an der Seite von Ammen auf. Und nicht jede Kuh ist die geborene Mutter, die ein oder andere Kuh lässt ihr Kalb partout nicht trinken. Die passende Form der Kälberaufzucht zu finden, dauert und kann sich immer wieder ändern. Dennoch ist nach den vier Jahren Praxis eindeutig zu merken, wie sowohl die Herden als auch die Bäuerinnen und Bauern ruhiger mit der kuhgebundenen Kälberaufzucht werden. Sie kennen mittlerweile unterschiedliche gangbare Verfahren, haben ein Auge für das Trinkverhalten und die Gesundheit der Kälber bekommen, kennen wertvolle Tricks und haben mittlerweile ein Gespür dafür, welche Kuh eine Amme, eine Milchkuh (die gemolken wird) und eine Mutter-Kuh ist.

Foto © PROVIEH

Man lernt nie aus

Für unsere Fachreferent:innen ist der jährliche Besuch der vielen Höfe, mit den unterschiedlichen Rassen, Umsetzungen, Betriebsleiter:innen und den Unterschieden in Fütterung und Vermarktung immer wieder ein lehrreicher und intensiver Einblick in die Praxis – mit allen Potenzialen, Herausforderungen und praktischen Unterschieden, die erst auf den Höfen direkt erfasst werden können. Neben der Kontrolle der Richtlinie wird bei den Hofbesuchen auch immer ganzheitlich auf das System der kuhgebundenen Kälberaufzucht geschaut und eine Beratung zur Weiterentwicklung durchgeführt. Diese gemeinsame Entwicklung von anspruchsvollen Kriterien, die Kontrolle und die Beratung der Höfe durch PROVIEH hat für uns die Güte der Zusammenarbeit mit engagierten Bäuerinnen und Bauern offenbart. Schließlich ist auch für uns Fachreferent:innen nach der Reise klar: man lernt nie aus.

Anne Hamester


PROVIEH-Kampagne: KUH UND KALB – mehr Zeit zu zweit – PROVIEH kämpft für eine nachhaltige und wesensgerechte Haltung von Kuh und Kalb!

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