Pferdewohl versus Pferdesport?

Olympische Spiele 2021, Tribani, der Wallach der Dressurreiterin Caroline Chew aus Singapur blutet aus dem Maul. Es greift die sogenannte „Blutregel“ und die beiden werden aus dem Wettbewerb genommen. Der irische Reiter Cian O’Conner bemerkt nicht, dass sein Wallach Kilkenny während des Springparcours immer stärker aus beiden Nüstern blutet. Niemand schreitet ein. Beim Absolvieren eines Wasserhindernisses in der Vielseitigkeit unter dem Schweizer Robin Godel, landet der Wallach Jet Set unglücklich. Ein diagnostizierter Bänderriss führt zu der Entscheidung Jet Set zu euthanasieren. Für den Springparcours im modernen Fünfkampf wurde der Deutschen Annika Schleu der Wallach Saint Boy zugelost. Bereits bei der Vorreiterin ging Saint Boy nur sehr zögerlich voran. Beim Reiterrinnenwechsel glänzte sein Fell vom Schweiß und er zeigte deutlich, dass er nicht mehr wollte. Doch sein klares aber stummes Nein zu dieser fremden Reiterin, sein klares Nein zu dem Tumult, dem Lärm, der Menschenmenge und dem riesengroßen Stadion wurde übergangen. Mehr noch, die Trainerin spornte Schleu dazu das Pferd zu schlagen. Mit Gerte und Sporen traktierte sie daraufhin das Tier. Verzweifelt beugte es sich schließlich und lief los. Das Publikum applaudierte. Schleu trieb Saint Boy mehrfach in die Sprünge, wo er sich verweigerte. Erst dann wurde der Ritt durch die Richter gemäß dem Reglement gestoppt.

Ein Zeitungsinterview mit Annika Schleu zum beschriebenen Vorfall (ZEIT, 12.08.21) beginnt mit den Worten: „Frau Schleu, ein Pferd hat sich Ihrem Willen verweigert und Sie um die Goldmedaille gebracht. “ und offenbart damit bereits eine sehr bedenkliche Denk- bzw. Betrachtungsweise.

Ebenso verdeutlicht die Reaktion der Sportlerin in anderen Interviews etwas: „Ich habe das Pferd nicht extrem hart behandelt. Ich hatte eine Gerte dabei, die vorher kontrolliert wurde. Genauso wie die Sporen. Ich bin mir wirklich keiner Tierquälerei bewusst“, so Schleu. Rückblickend hätte sie „ein bisschen ruhiger und besonnener reagieren können“, räumte sie ein, „man hat bloß in der Wettkampfsituation, in dem Stress nicht so viel Zeit. Und ich hätte eventuell früher sagen können, okay, es hat einfach keinen Wert.“

Das Pferd muss also funktionieren? Der heutige „moderne“ Pferdesport lässt wenig Raum für Tierwohl, Fairness und Partnerschaft. Getrieben von eigenem Ehrgeiz, Druck und Zwängen durch Trainer, Sponsoren, Funktionäre werden den Pferden Höchstleistungen abverlangt. Doch welcher Druck der Welt kann Gewalt im Umgang mit einem Tier überhaupt rechtfertigen?

Diese vier Wallache stehen stellvertretend für eine Million Pferde in Deutschland und um die 60 Millionen Pferde weltweit. Sollte der „große Sport“ nicht ein Vorbild sein für den Breitensportbereich und die Freizeitreiter?

Vielleicht haben die Vorkommnisse bei Olympia etwas angestoßen. Vielleicht wird jetzt tatsächlich genauer hingeschaut. Vielleicht wird es demnächst besser in der Pferdewelt. Vielleicht… 

Fakt ist – und dies gilt nicht nur für den großen Sport:

Beim Reiten, beim Training genauso wie im gesamten Umgang, der Haltung und der Fütterung haben wir die Pferde unseren Bedürfnissen angepasst. Da MUSS sich dringend etwas ändern. In den Köpfen wie auch in unseren Herzen müssen wir bereit sein eine Veränderung zuzulassen. Es gibt so viele Möglichkeiten. Die Leitlinien zur Beurteilung von Pferdehaltungen unter Tierschutzgesichtspunkten sowie die Leitlinien zum Tierschutz im Pferdesport sollten überall Beachtung finden und vor allem umgesetzt werden. Die darin enthaltenen MINDESTanforderungen sollten jedem Pferdehalter und jedem der mit Pferden umgeht bekannt sein.

Es gibt natürlich auch die Reiter:innen, die anders denken, deren Pferde als gleichberechtigte Partner angesehen werden, die mit Geduld und Einfühlungsvermögen und sehr viel Wissen in Haltung, Umgang, Training und Sport agieren. Doch es müssen mehr werden, noch viel mehr.

Kathrin Kofent

Foto: © Angelika Schmelzer

Hier finden Sie den Link zu einem Interview, dass Kathrin Kofent anlässlich der Vorfälle bei den Olympischen Spielen führte.
Sendetermin des Radiointerviews: Donnerstag, 19.08.2021, um 13.30 Uhr auf Radio free FM in der Sendung Ulmer Freiheit.

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