Verbreiten Wildvögel oder die Geflügelindustrie die Geflügelpest über nah und fern?

Diese Frage wird noch immer kontrovers diskutiert.

Geflügelpest ist eine schwere und meist tödlich verlaufende Seuchenkrankheit von Vögeln. Sie ist die gefährliche Schwester der harmlosen Vogelgrippe (Aviäre Influenza, kurz AI). Beide Schwestern werden von AI-Viren verursacht, von denen es also hochpathogene (stark krankmachende) und niedrigpathogene (schwach krankmachende) Varianten gibt. Einigkeit besteht, dass die hochpathogenen Varianten auf verschiedene Weisen aus niedrigpathogenen Varianten der Vogelgrippe entstehen und dass dies fast immer in China oder anderswo im Fernen Osten geschieht, so gut wie immer in den Regionen mit Hochburgen der Geflügelindustrie. 

Uneinigkeit dagegen besteht noch immer in der Antwort auf die Frage, ob die hochpathogenen AI-Viren im Freiland entstehen und von dort in die Ställe der Geflügelindustrie gelangen, oder ob sie umgekehrt in den Ställen der Geflügelindustrie entstehen und von dort ins Freiland zu den Wildvögeln gelangen.  

Wildvögel bewegen sich viel über kürzere und längere Strecken, zur Zugzeit auch über einige tausend Kilometer. Viele Bewegungen über nah und fern gibt es auch in der hochvernetzten Geflügelindustrie. Rein theoretisch kämen also sowohl Wildvögel als auch die Geflügelindustrie als Verbreiter hochpathogener AI-Viren über nah und fern in Frage.  

Welche der beiden Möglichkeiten hat sich aufgrund praktischer Erfahrungen als überlegen gegenüber der jeweils anderen Möglichkeit erwiesen? In der Antwort diese Frage scheiden sich die Geister grundsätzlich. 

Auf der einen Seite stehen in Deutschland die Forscher des Friedrich-Loeffler-Instituts für Tiergesundheit auf der Insel Riems. Seit 2005, als die damals neuartige AI-Variante A/H5N1 Asia am entlegenen chinesischen Hochgebirgssee Qinghai ankam und tausende Wasservögel an Geflügelpest sterben ließ, halten die FLI-Forscher unbeirrt an ihrer Überzeugung fest, dass ziehende Wildvögel diese hochpathogenen AI-Variante zum Qinghai-See gebracht und anschließend weltweit verbreitet hätten, bis hinein in die Ställe der Geflügelindustrie, sicherlich nicht auf direktem, wohl auf indirektem Wege, zum Beispiel durch Futter oder Einstreu, verschmutzt mit Kot von infizierten Wildvögeln. 

Auf der anderen Seite stehen zum Beispiel die Forscher des Wissenschaftsforums Aviäre Influenza (WAI). Nach überaus gründlichen Recherchen konnten sie immer wieder begründen, dass es in den untersuchten Fällen die Geflügelindustrie gewesen sein muss, die die Geflügelpest Viren über nah und fern verbreitet haben, von Betrieb zu Betrieb und ins Freiland, und dass auch am Qinghai-See das gefährliche AI-Virus auf diese Weise ankam und von dort per Bahn und Flugzeug weltweit verbreitet wurde. Auf diese Weise seien später auch andere hochpathogene AI-Varianten verbreitet worden.  

Das bedeutet, dass die WAI-Forscher mit ihren Erkenntnissen die Überzeugung der FLI-Forscher auf ganzer Linie gründlich widerlegt haben. An dieser Widerlegung haben Forscher aus anderen Teilen der Welt teilgenommen. Die Niederlage, die die FLI- und gleichgesinnte andere Forscher erlitten haben, war also verheerend.  

Und wie reagierten die FLI-Forscher auf diese Niederlage? Sie erkannten sie nicht an, sondern hielten an ihrer eigenen Überzeugung unbeirrt fest. Das zeigt, sie haben ihre Auffassung schon längst zu ihrem Glaubensdogma degenerieren lassen, das keine Kritik zulässt. 

So konnte dieses Dogma in der Politik zum Rückgrat der „Verordnung zum Schutz gegen die Geflügelpest“ werden, die aktuell noch immer gilt. Nach ihr gilt die Freilandhaltung von Geflügel als biounsicher, die Stallhaltung der Geflügelindustrie dagegen als biosicher. Diese „amtlich“ bestätigte Einstufung ist der Geflügelindustrie willkommen und nimmt die Freilandhaltung von Geflügel in den Würgegriff, der schon zum Aus vieler dieser Betriebe geführt hat. Immer mehr drängt sich der Verdacht auf, dass die Geflügelindustrie zu Lasten der Freilandhaltung von Geflügel geschützt werden soll. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, wäre das ein politischer Skandal, der wegen seiner Brisanz eine politische Prüfung erfordert.  

Sievert Lorenzen

08.10.2021

PROVIEH hat diesen Skandal statistisch analysiert im nachfolgenden Beitrag „Im Würgegriff der Wildvogelhypothese zur Ausbreitung von Geflügelpest“. 

Im Würgegriff der Wildvogelhypothese zur Ausbreitung von Geflügelpest – droht das Aus für die Freilandhaltung von Geflügel?  

Pressemitteilung, 28.03.2017

PROVIEH hat eine Statistik erstellt. Auf Grundlage von Zahlen des Zentralverbandes der deutschen Geflügelwirtschaft und des Bundes Deutscher Rassegeflügelzüchter rechnen wir mit rund 8.000 gewerblichen und 180.000 privaten Haltungen. Das ergibt ein Verhältnis von 4 Prozent zu 96 Prozent. Eigentlich hätte sich die Anzahl der Ausbrüche gleichmäßig auf alle Betriebsformen verteilen müssen. Denn gemäß den Aussagen des FLI ist „ein direkter oder indirekter Eintrag über kontaminiertes Material (Schuhwerk, Fahrzeuge, Gegenstände) für die meisten Haltungen die wahrscheinlichste Infektionsquelle.“ Die Ausbrüche verteilen sich aber anders: Die Wahrscheinlichkeit für einen Ausbruch in einem gewerblichen Geflügelbetrieb ist über 60-mal höher als in einem privaten Geflügelbetrieb. Diese Zahlen wurden uns am 27.3.2017 vom FLI bestätigt. Die Schlussfolgerung des Vereins: „Die Verbreitung der Viren scheint ein internes Problem der Geflügelwirtschaft zu sein.“

Das sieht die EU-Kommission leider anders, siehe Durchführungsbeschluss (EU) 2017/263 der Kommission vom 14. Februar 2017. Düster wird es für die Freilandhaltung von Geflügel. Ihr wird der Boden entzogen durch die höchst umstrittene Behauptung von Behörden, überwinternde Wasservögel könnten Geflügelbestände mit Geflügelpest anstecken. Dass mit dem Beschluss massive Tierschutzverstöße erzwungen werden, stört die Behörden auf EU- und Landesebene nicht, wohl aber alle Menschen, die für Tierschutz und Tierwohl kämpfen.

Zumindest räumt die Kommission ein, dass Geflügelpestviren auch durch menschliche Nachlässigkeiten direkt von Betrieb zu Betrieb verbreitet werden können. Mit Stillschweigen wird übergangen, dass die Viren auf diese Weise auch ins Freie gelangen und dort Wildvögel infizieren können. Deshalb ist es nicht hinnehmbar, einem an Geflügelpest gestorbenen Wildvogel ohne jede Begründung zu unterstellen, gefährlicher Verbreiter der Geflügelpest gewesen zu sein. Er könnte umgekehrt Opfer einer Infektion durch die Geflügelindustrie geworden sein. Unbegründet ist noch immer die Vermutung, Hobbyhaltungen von Freilandgeflügel könnten der Ausbreitung von Geflügelpest dienen. Kurz, in mehrfacher Hinsicht verstoßen die verantwortlichen Behörden gegen das rechtsstaatlich verankerte Prinzip der Verhältnismäßigkeit ausgeübter hoheitlicher Gewalt. Das ist ein Skandal, der nicht geduldet werden darf.


 
 

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