Frei sein

Das Wohlergehen jeden einzelnen „Haus“pferdes liegt in der Hand der Menschen. Ob Halter, Reiter oder Stallbetreiber, alle leisten ihren Beitrag. Marlitt Wendt ist Verhaltensbiologin mit dem Spezialgebiet Pferdeverhalten. Auf Ihrer Hompage pferdsein.de schreibt sie mit viel Herzblut zu diversen Themen rund ums Pferd. Unter anderem machte sie sich Gedanken zum „Frei sein“:

Frei sein -Wenigstens mental

Echte Freiheit können wir unseren Hauspferden leider nicht mehr bieten. Wir entscheiden letztlich über ihr komplettes Leben, ein Pferdeleben lang. Wir sind es, die sie kaufen oder verkaufen. Wir sind es, die mit ihnen umziehen, die sie deswegen aus vertrauten Gruppen herausnehmen und in andere integrieren. Wir sind es, die sie transportieren und an fremden Orten Höchstleistungen von ihnen verlangen. Wir sind es, die oft genug ihren gesamten Tagesablauf bestimmen. Wir sind es, die beschließen, was und wann gefressen wird. Wir sind es, die entscheiden, ob und wann der Tierarzt gerufen wird. Wir sind es, die entscheiden, wie sie ausgebildet und behandelt werden. Eine sehr große Verantwortung, wie ich finde. Gerade vor dem Hintergrund, dass jede Persönlichkeit, egal ob Mensch oder Pferd oder irgendein anderes denkendes und fühlendes Lebewesen, für seine optimale emotionale und geistige Entwicklung, das Gefühl braucht, es selbst sein zu dürfen und seine eigenen Entscheidungen zu treffen, die dann auch in seinem Leben und im Kontakt zu seinen Mitgeschöpfen etwas bewirken.

Freiheit im Herzen

Wir alle bewegen uns in einem bestimmten oft unabänderlichen Rahmen. Wir sind in eine Familie eingebettet, wurden von unserem soziokulturellen Milieu geprägt und haben ganz charakteristische Lebensgewohnheiten entwickelt. Auch in Bezug auf unsere Pferde gibt es viele zukunftsbestimmende Ausgangskonstellationen: Jemand hat gewollt oder ungewollt unser Pferd „auf diese Welt geschickt“, entweder gezielt gezüchtet oder als „Weideunfall“. Wir sind irgendwie in Besitz dieses wunderbaren Tieres gekommen, ob wir es nun gekauft oder vom Tierschutz übernommen oder geschenkt bekommen haben. Wir sind rechtlich gesehen Besitzer des Pferdes, für mich eigentlich ein schrecklicher Gedanke, eine andere Person „besitzen“ zu dürfen. Deshalb denke ich eher über meine Rolle als Verantwortlicher für diese einzigartige Person nach. Denn wir können zwar nicht zurück zur Natur, was wir aber tun können, ist ihnen so viel Freiheit wie möglich zu schenken. Es ist möglich, wenn auch für uns manchmal etwas unbequem oder umständlich, ihnen einiges an Entfaltungsmöglichkeiten für ihre Persönlichkeit zurückzugeben.

Drei Pferde auf einer Wiese vor Bergen
© Marlitt Wendt

An erster Stelle steht dabei für mich die Wahl der Haltungsform und die damit verbundenen Freiheitsgrade. Boxenhaltung z.B. bietet neben vielen anderen Nachteilen beispielsweise sehr wenige Entfaltungsmöglichkeiten, nur eingeschränkte Sozialkontakte, keine freie Wahl des Aufenthaltsortes, keine Bewegungsanreize. Auch wenn es sich dabei nur um einige Stunden am Tag handelt, je mehr Zeit das Pferd in diesem Umfeld verbringt, desto mehr Chancen verschenken wir, es zu der Persönlichkeit werden zu lassen, die in seinem Inneren schlummert und heraus will.

Auch wenn unser Pferd schon im Offenstall steht, gibt es immer Möglichkeiten sein Leben weiter zu bereichern, mit mehr Platz, mehr Bewegungsanreizen und mit kognitiven Beschäftigungsmöglichkeiten. Das Stichwort ist hier Enrichment, also die Bereicherung aller Aspekte des Lebensumfeldes.

Die Gedanken sind frei

Uns ganz alleine obliegt die Wahl der Ausbildungsmethode und die damit einhergehenden Freiheiten für das Pferd auch einmal „Nein“ sagen zu dürfen. So oft wie möglich möchte ich im Zusammensein mit den Pferden eine Wahlfreiheit anbieten, also alternative Handlungsspielräume bei unseren Begegnungen eröffnen. Sei es indem ich mich gleich auf der Weide mit ihm beschäftige und ihm damit die Möglichkeit lasse, wenn es will zu grasen oder einfach zu den anderen Pferden zu gehen oder indem ich es an Wegeskreuzungen im Gelände „frage“ in welche Richtung es denn gerne gehen möchte. Je mehr solcher Entscheidungsmöglichkeiten in unseren Alltag mit eingebunden werden, umso mehr können sich unsere Pferde als selbstbestimmte Persönlichkeiten empfinden und ein wenig ihre Zeit mit uns aktiv mitgestalten. Zudem können wir so auch viel voneinander lernen, etwa welche Vorlieben und Abneigungen wir pflegen und in welchen Situationen wir großzügig oder aber auch manchmal gehemmt reagieren.

Für mich am wichtigsten ist es, dass ein Pferd es selbst sein darf. Ich möchte es natürlich motivieren, etwas gemeinsam mit mir zu unternehmen und diese Freiwilligkeit und Eigeninitiative sind dabei Werte die wir vielleicht erst an unseren Pferden zu schätzen lernen müssen.

Diesen ganz speziellen, besonderen Ausdruck, das Erstrahlen der Individualität, der unverfälschten Persönlichkeit möchte ich in jedem Moment mit meinem Pferd genießen. So viele Tiere erscheinen auf Fotos oder Veranstaltungen komplett freudlos und austauschbar. Sie werden behandelt wie Dinge und erscheinen dann auch so, sie werden niemals als selbstbestimmtes Individuum gesehen und dürfen sich nicht ihrer Natur entsprechend verhalten. Jedes Pferd besitzt dieses innere Bedürfnis sich ausdrücken zu dürfen und zeigt dann seine gelöste Ausstrahlung und das für Jedermann sichtbare Leuchten der Freude.

Marlitt Wendt

Fotos: Marlitt Wendt

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