Gesunde, unkupierte Ringelschwänze sind kein Hexenwerk

10.01.2014: Bisher wird den meisten konventionell gehaltenen Schweinen in Deutschland der Ringelschwanz routinemäßig betäubungslos gekürzt. Raufutter wie Heu oder Stroh bekommen sie nicht. PROVIEH drängt auf Beendigung dieser Verstöße gegen geltende EU-Tierschutzgesetze und sieht seine Forderungen durch Praxiserfahrungen untermauert. 2014 könnte die Wende bringen.

Die EU-Kommission und die Behörden in den Mitgliedsstaaten haben lange Zeit beide Augen zugedrückt, weil das Problem des Schwanzbeißens (Kannibalismus) als „hoch komplex und multifaktoriell“ eingestuft wurde. Die Erfahrungen aus der guten betrieblichen Praxis mit langen Ringelschwänzen zeigen inzwischen aber deutlich: Bei mindestens vierwöchiger Säugezeit und täglicher Gabe von hochwertigem Raufutter sowie einwandfreier Tränke kann man auf das Kupieren der Schweineschwänze gut verzichten, ohne Kannibalismus zu riskieren.

Damit würden die geltenden EU-Vorschriften bezüglich des Kupierverzichts und der „ständigen Bereitstellung von ausreichend angemessenem Beschäftigungsmaterial wie Heu, Stroh, Torf etc…“ endlich erfüllt.

Ferkel im Stall
© PROVIEH

Erfolgreicher Kupierverzicht in der Schweiz

In der Schweiz ist das Kupieren seit 2008 verboten, und das Verbot wird auch durchgesetzt. Trotzdem gibt es dort keine großen Probleme mit Kannibalismus – selbst auf Betonvollspalten bei nur 0,65 m2 Platz pro Mastschwein in den nur „QM“-zertifizierten konventionellen Betrieben.

Was machen die Schweizer Schweinehalter besser?

  1. Die gesetzlich vorgeschriebene  Säugezeit ist in der Schweiz länger: Sie beträgt vier Wochen. Bei uns sind 21 Tage erlaubt. Das überfordert die Ferkel, deren Darm nach so kurzer Zeit noch nicht ausreichend entwickelt ist, um normales Futter zu verwerten. Daraus entstehen viele Probleme, auch in Bezug auf Schwanzbeißen und -nekrosen. Daher die Forderung von PROVIEH, die gesetzliche Säugezeit auch bei uns auf vier Wochen (nicht unter 25 Tage) festzusetzen.
  2. Die Schweizer tränken oft mit saurer Molke, weil sie häufig auch Milchkühe halten und nebenher Käse produzieren. Dieses Modell kann man nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen, weil hier die Betriebsstrukturen anders sind. Umso wichtiger ist es, bei uns das Augenmerk sehr stark auf eine qualitativ und quantitativ einwandfreie Tränkwasserversorgung zu richten. Hier besteht dringender Verbesserungsbedarf, wie eine Studie in Nordrhein-Westfalen 2013 zeigte.
  3. Die besten Ergebnisse erzielen Betriebe in den Tierschutz-Förderprogrammen (zum Beispiel naturafarm der schweizerische COOP), die den Tieren Stroh und/oder anderes Raufutter geben.

Wenn diese drei Grundbedingungen eingehalten werden, so sind wir aufgrund der positiven Erfahrungen aus der guten fachlichen Praxis von Betrieben im In- und Ausland überzeugt, dann kann der in normalen konventionellen Haltungen heute übliche Überforderungs- und Anpassungsstress bei den Schweinen soweit abgesenkt werden, dass nicht mehr jede Kleinigkeit – wie ein Temperatursturz oder zu warmes Wetter – Episoden von verstärktem Kannibalismus auslöst.

Wo liegt bei uns das Problem?

In der konventionellen Schweinehaltung in Deutschland, insbesondere in der Massentierhaltung mit den automatischen Fütterungsanlagen, überwiegen die reine Brei- und Flüssigfütterung. Diese wirken sich fatal auf die Magen-Darmgesundheit, das Sättigungsgefühl und dadurch auch auf die Aggressivität der Tiere aus. Sie brauchen zusätzlich zum Kraftfutter täglich frisch bereitgestelltes, qualitativ hochwertiges, gut verdauliches Raufutter wie Heu, Luzerne oder Ähnliches. Stroh ist dagegen erfahrungsgemäß weniger geeignet, weil es schlecht verdaulich ist. Selbstverständlich ist außerdem auf ausreichend Nährstoffe (inkl. Aminosäuren!) und Mineralien in der täglichen Futterration zu achten; dieser Bedarf kann – insbesondere bei den anspruchsvollen Hybridschweinen – keinesfalls nur über Raufutter gedeckt werden.

Nur „Sahnetorte“ futtern macht nicht satt…

Man kann sich nur allzu gut vorstellen, was Schweine – die uns Menschen physiologisch so eng verwandt sind, dass sie als Organspender eher als Primaten in Frage kommen (Xenotransplantation) –  aufgrund der heutigen Fütterungspraxis durchmachen: Sie bekommen meist hochproteinreiche Flüssigfütterung. Die flüssige Nahrung schlingen sie in kürzester Zeit ungekaut herunter. Dabei ist die für eine gesunde Verdauung sehr wichtige Einspeichelung praktisch gleich null. So legen sie zwar oft schnell an Gewicht zu, was die Tierhalter dann als „gute Leistung“ werten, aber die Schweine werden nicht satt.

Schweine im Heu
© PROVIEH

Man braucht kein Studium der Ernährungswissenschaften, um zu begreifen, was einem passiert, wenn man den ganzen Tag nur Sahnetorte in sich hineinschlingt: Kalorien hat man dann zwar genug, fett wird man auch, aber statt eines Sättigungsgefühls bekommt man  Verdauungsprobleme mangels Ballaststoffen. Ihre natürlichen Verhaltensweisen wie Kauen und Wühlen können die Schweine so schon gar nicht ausleben. Schließlich verbringen sie in der Natur über ein Drittel ihrer Wachzeit allein mit Grasen, drei Viertel insgesamt mit dem Erforschen und Erkunden ihrer Umgebung, mit Wühlen, Kauen und Fressen, also hauptsächlich mit der Futtersuche oder mit Futterausnahme.

Die mangelnde Sättigung, das nicht befriedigte natürliche Wühl- und Kaubedürfnis und die Langeweile führen zu Stress und in der Folge häufig zu Kannibalismusproblemen.

…aber krank!

Für die Gesundheit des Verdauungstrakts ist diese Fütterung eine Katastrophe, weil dieser Brei kaum Ballaststoffe enthält. Das ist gewollt, damit die Tiere möglichst schnell möglichst viel fressen und schneller schlachtreif werden. Aber es hat schlimme Folgen für die Tiere.

Laut einer im Herbst 2013 veröffentlichten dänischen Fütterungsstudie konnte die Zahl der von Magengeschwüren geplagten Schweine von 33 Prozent bei zehn Gramm Stroh pro Tier und Tag auf 7 Prozent bei 500 Gramm pro Tier und Tag gesenkt werden. Wenn man höherwertiges, besser verdauliches Raufutter als Stroh (zum Beispiel Heu) nähme, könnte die Magengeschwürhäufigkeit sicher noch weiter gesenkt werden. In Deutschland bekommen die Schweine in der Regel aber gar kein Raufutter, weshalb die Magengeschwürrate höchstwahrscheinlich noch höher als in der dänischen Studie liegt. Das belegten auch Untersuchungen von Professor Kamphues, demzufolge heute aufgrund von Fütterungsfehlern bis zu 60 Prozent der Schweine in Deutschland unter Magengeschwüren oder krankhaften Veränderungen des Magens leiden.

Sehr häufig treten bei mangelhafter Fütterung und/oder Tränke auch Schwanz- und Ohrrandnekrosen auf; das heißt, das Schwanzende oder die Ränder der Ohren färben sich mangels Durchblutung schwärzlich und sterben ab. Das juckt, so dass die betroffenen Schweine es zulassen, dass ihre gelangweilten bis aggressiven, hungrigen Leidensgenossen ihr Kaubedürfnis befriedigen, indem sie ihnen an Schwanz und Ohren knabbern. Der Juckreiz führt so zu ernsteren Verletzungen.

Fazit: Raufutter vorschreiben, Kupierverzicht durchsetzen

Ringelschänze
© PROVIEH

Satte, zufriedene, gesunde Schweine beißen einander nicht, wie man in Betrieben mit guter fachlicher Praxis insbesondere bezüglich der Raufuttergabe sehen kann.

PROVIEH fordert deshalb eine natürlichere, tiergerechtere Fütterung – also die täglich frische Gabe von Raufutter an alle Schweine in allen Lebensphasen (Ferkelwühlerde schon im Abferkelstall!) – auch wenn das mehr Arbeit macht und mehr kostet; denn selbst für Ställe mit Spaltenböden gibt es heute bereits ausreichend Systeme für die Bereitstellung von Raufutter, zum Beispiel Raufen mit Auffangschale oder Heukörbe über abgedeckten Spalten (beispielsweise durch Füllmaterial, sogenannte „plug-ins“) sowie den Düsser Wühlturm, um nur einige Varianten zu nennen.

Raufutter für alle Schweine hatte PROVIEH auch im Rahmen des Bonussystems der Tierwohlinitiative (TWI) versucht als Pflichtkriterium zu etablieren (wir berichteten, siehe unten). Die vorläufige Kompromisslösung für die Kriterienkataloge sieht Raufutter allerdings nur als eines von zwei “Wahlpflichtkriterien“ vor. Das ist sicher besser als Nichts, aber im Hinblick auf das Tierwohl und den vorgeschriebenen Kupierverzicht nur suboptimal, weil die Alternative sehr leicht erfüllbar ist und deshalb wahrscheinlich öfter gewählt werden wird: zehn Prozent mehr Platz pro Tier. Der Weg des geringsten Widerstands ist nun mal der attraktivste für die meisten Menschen, da machen auch Tierhalter keine Ausnahme.

Deshalb übt PROVIEH weiterhin auf allen Ebenen Druck aus für die vollständige Umsetzung der EU-Richtlinie 2008/120/EG zum Schutz der Schweine , in der die ständige Bereitstellung von angemessenem Beschäftigungsmaterial wie Heu, Stroh, Torf etc. vorgeschrieben und das routinemäßige Schwanzkupieren untersagt wird. 2014 könnte uns diesem Ziel einen entscheidenden Schritt näher bringen – unter anderem dank unserer neuerlichen Klage in Brüssel (s.u.), der diesbezüglichen Initiativen des Landes Nordrhein-Westfalen, mit dem PROVIEH eng zusammenarbeitet, und wegen des in Ausarbeitung befindlichen offiziellen EU-Leitfadens für die korrekte Umsetzung der Richtlinie, an dem PROVIEH mitarbeitet. 

Sabine Ohm


Quellen und weiterführende Informationen:

   

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