Kuh und Kalb gehör(t)en zusammen

Kälberhaltung im Wandel der Zeit

Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein waren Fleisch- und Milchprodukte ein besonderes Gut. Der Sonntagsbraten blieb oftmals nur den reicheren Familien vorbehalten. Milch galt überwiegend als begrenztes Nahrungsmittel für Babys und Kleinkinder. Denn Kälber wuchsen bei ihren Müttern auf und so blieb nur die nicht vom Kalb gebrauchte Milch zum menschlichen Verzehr übrig. Kälber wurden entweder auf dem Hof gemästet oder als spätere Milchlieferanten aufgezogen. Viele Bauern hatten damals nur ein oder zwei Kühe. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Milchmarkt zur Versorgung der städtischen Bevölkerung rasant. Größere landwirtschaftliche Betriebe und sogenannte Abmelkwirtschaften entstanden. Bei Letztgenannten wurden die Kühe so lange gemolken, wie der Milchfluss auch ohne Kalbungen andauerte. Danach wurden sie gemästet und geschlachtet. Molkereien regelten den Absatzmarkt und der Vertrieb des „weißen Goldes“ erfolgte jahrzehntelang über die zahlreichen Milchmänner des Landes. So wurde die Milch schnell, gut gekühlt und frisch zu den Konsument:innen direkt nach Hause geliefert. Nach den Mangelzeiten in Folge des Zweiten Weltkrieges wurde Milch in gezielten Werbekampagnen als gesundes und “schickes” Lebensmittel beworben. Bald ermöglichten Prozesse zur Haltbarmachung der Milch sowie moderne Kühlsysteme, die Kühltheken in Supermärkten und die Kühlschränke zuhause einen praktischen Transport und eine sichere Aufbewahrung. Das Sortiment vergrößerte sich rasch und der Konsum an Milchprodukten jeglicher Art boomte.

Eimer statt Euter

Im Zuge der fortschreitenden Mechanisierung der Landwirtschaft hielt schließlich der sogenannte Milchaustauscher (MAT) Einzug in die Ställe. Dieses Produkt ist ein Pulver, welches, angemischt mit Wasser, zur preiswerteren und praktischeren Fütterung von Kälbern direkt nach der Kolostralmilchgabe eingesetzt werden kann. Ein großes Problem ist dabei die Verwendung pflanzlicher Fette und Eiweiße, die besonders von jungen Kälbern nicht gut vertragen werden. MAT ermöglichte es den Landwirten, die Kälber unabhängig von der Mutter und gleichzeitig kostengünstiger zu ernähren. So konnte/kann nahezu die gesamte Milchmenge vermarktet werden. Die mutterlose Kälberaufzucht wurde salonfähig und bald wurde fast jedes Kalb kurz nach der Geburt von der Mutter getrennt und am Eimer, oftmals mit MAT, aufgezogen. Die schlechten hygienischen Verhältnisse ließen die noch immunsensiblen Kälber reihenweise an Durchfall und anderen Infekten sterben. Um einer Ausbreitung von Krankheiten im gesamten Kälberbestand Einhalt zu gebieten, wurde empfohlen, die Kälber voneinander separiert zu halten. So wurden sie im Stall angebunden, in winzige dunkle Ständerabteile oder Boxen gepfercht. Die Kälber bekamen oft viel zu wenig Nahrung, und statt zehnmal am Tag aus dem Euter zu trinken, wurden sie nun nur ein oder zweimal am Tag aus einem Eimer gefüttert. Solch einen „moderner Stall“ sahen die PROVIEH-Vereinsgründerinnen Margarete und Olga Bartling auf einer Studienfahrt. Insbesondere die erbärmliche Kälberhaltung schockierte die Schwestern zutiefst. Damals war es zulässig, Kälber:

  • lebenslang anzubinden
  • in Boxen aufzustallen, die so eng waren, dass sie sich weder umdrehen, vor- oder rückwärts bewegen, noch in einer natürlichen Ruhelage liegen konnten
  • ohne Stroheinstreu auf Lattenrosten zu halten, wodurch ihre Beingelenke krankhaft verändert wurden, so dass sie nicht mehr schmerzfrei stehen konnten
  • mit einer eisenarmen Nährlösung zu füttern, um „weißes“ Kalbfleisch zu produzieren; sie litten dann an Anämie.
  • ohne Raufutter aufzuziehen, welches sie eigentlich rund vierzehn Tage nach ihrer Geburt erhalten müssten; denn das Verdauungssystem wird ohne es nur unvollkommen ausgebildet
Illustration zu der Herstellung von Milchaustauscher
alte Fotografien von Kälberhaltung

Margarethe und Olga Bartling wollten diese Bedingungen nicht einfach hinnehmen und gründeten am 15.06.1973 den „Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung“, heute PROVIEH.

Infobox: Seit einem halben Jahrhundert setzt sich PROVIEH für eine bessere Nutztierhaltung ein. „PROVIEH wird 50! Wie alles begann…“. Lesen Sie unseren Jubiläumsbeitrag zur Entstehungsgeschichte des Vereins im PROVIEH-Magazin 01-2023 oder unter www.provieh.de/provieh-wird-50-wie-alles-begann

Schrittweise Verbesserungen

Seit seiner Gründung setzt sich PROVIEH unermüdlich für verbesserte Haltungsbedingungen für Kälber ein. Am 1. Dezember 1992 wurden Kälbern mit der „Verordnung zum Schutz von Kälbern bei der Stallhaltung“ (Kälberhaltungsverordnung) erste konkrete Rechte zugesprochen. Eine Neufassung 1997 enthielt weitreichendere Regelungen, unter anderem wurde das permanente Anbinden von Kälbern verboten und Mindestmaße für ihre Haltung festgelegt. In der Tierschutznutztierhaltungsverordnung wurden ab dem 25.10.2001 die „Mindestanforderungen an das Halten von bis zu 6 Monate alten Kälbern“ (KälberHVO) festgeschrieben und bis heute immer weiter ergänzt. So müssen Kälber die ersten zwei Wochen auf Stroh und ab der achten Lebenswoche in Gruppen gehalten werden. Kälber müssen ungehindert liegen, aufstehen, sich hinlegen, eine natürliche Körperhaltung einnehmen, sich putzen, Nahrung und Wasser aufnehmen können. Es etablierten sich Kälberboxen oder die mittlerweile weit verbreiteten Kälberiglus. Auch wenn die Kälber darin etwas mehr Platz erhalten haben, ist auch hier kein artgemäßes Bewegungsverhalten wie Springen und Galoppieren möglich. Zudem werden die jungen Kälber bis zu acht Wochen in dieser „Käfig-Einzelhaft“ isoliert von Artgenossen aufgezogen.  

Aktuelle Neuerungen

Durch eine geänderte Tierschutztransportverordnung (TierSchTrV) dürfen Kälber statt ab dem 14. nun erst ab dem 28. Lebenstag transportiert werden. Ab Februar 2024 muss allen Kälbern bis sechs Monaten zudem eine weiche, verformbare Liegefläche zur Verfügung stehen. In der Praxis bedeutete das, dass Betonspaltenböden dann zumindest mit einer Gummiauflage ausgestattet werden müssen.

Lichtblicke?

Im Vergleich zur Situation, die die Bartling Schwestern in den 1970ern vorfanden, gibt es also große Verbesserungen – zumindest auf dem Papier. Jedoch spiegelt das Bild auf deutschen Milchviehbetrieben die vermeintlichen Verbesserungen nicht vollumfänglich wider. Heute leben um die 3,82 Millionen Milchkühe in Deutschlands Ställen, die 8.499 Kilogramm Milch pro Jahr produzieren und dafür jedes Jahr ein Kalb zur Welt bringen müssen. Die Bullenkälber und die nicht zur Nachzucht benötigten weiblichen Kälber, insbesondere der Hochleistungsrassen Holstein-Friesian und Braunvieh, sind „übrig“. Das ganze „System-Milch“ muss dringend umstrukturiert werden.

Die hohe Kälbersterblichkeit auf Milchviehbetrieben von bis zu 15 Prozent in den ersten vier Lebenswochen zeigt eindeutig, wie groß der Handlungsbedarf bei Kälbern ist. Neben einer weiteren Anpassung der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung fordert PROVIEH ein umfassendes Maßnahmenpaket zum Schutz der Kälber.

Ein aktueller Hoffnungsschimmer ist das im Rahmen der Strategie „Vom Erzeuger bis zum Verbraucher” (Farm to Fork) von der EU-Kommission bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit erstellte Gutachten zum Kälberschutz. Ziel ist es, dass die Europäische Union mit Hilfe dieser Gutachten noch in diesem Jahr neue, verbesserte Rechtsvorschriften erarbeitet. Die frühe paarweise Haltung und/ oder die frühe Haltung in Gruppen, eine frühe Versorgung mit Raufutter sowie ein größeres Platzangebot werden unter anderem in den Fokus gestellt. PROVIEH verfolgt den Prozess aufmerksam und ist im Gespräch mit der deutschen Politik, um eine schnellstmögliche Umsetzung hierzulande einzufordern.

Unsere Zukunftsvision:

Statt der Hochleistungszucht auf Milch sollte eine Zweinutzungszucht die Kälber für eine hochwertige Milch- und Fleischgewinnung nutzbar machen. Anstelle von Kälber-Exporten ins Ausland sollten Kälber hierzulande artgemäß gemästet und Kälbertransporte durch regionale Vermarktungsstrategien und (mobile) Schlachtstätten vor Ort minimiert werden. Eine Rückkehr zum Ursprung und damit einer kuhgebundenen Aufzucht, am besten an der Seite der Mutter, muss weiter angestrebt werden. Zeitgleich bedarf es einer ganzheitlichen Fütterungs- und Gesundheits- sowie Haltungsstrategie und einer Beendigung des Enthornens. Erst in diesem Zusammenspiel könnten Kälber aus der Milchviehhaltung umfassend geschützt werden.

Verschiedene teilnehmende Landwirt:innen setzen unsere Vision bereits heute um und gehen als Leuchtturmprojekte für eine artgemäße Kälberaufzucht voran. Besuchen Sie unsere Website und erfahren Sie zum Beispiel, wo Sie Milch aus kuhgebundener Kälberhaltung kaufen können: www.provieh.de/kuh-und-kalb

Kathrin Kofent

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