Von unendlichen Weiten in die Box

Ein Gespräch mit Tierfilmer Marc Lubetzki

Du hast auf zahlreichen Reisen Wildpferde beobachtet. Wo warst du überall?

Darf ich noch nicht verraten. Seit letztem Sommer habe ich ein paar Sachen im Blog veröffentlicht. Aber ich muss zurückhaltend sein, weil die Highlights in einer Dokumentation erscheinen sollen.  

Was uns jetzt interessiert ist die Übertragung auf die „Haus“pferde. Du hast ja selbst auch drei Pferde Zuhause. Welche Erkenntnisse haben dich beim Filmen besonders beeindruckt beziehungsweise überrascht?

Das erste was einem auffällt, wenn man draußen bei den Wildpferden ist, ist der Platz, den die Pferde zur Verfügung haben. Das ist erst mal völlig ungewohnt. Aber das ist auch das Härteste, wenn man wieder zurückkommt. Wenn du denkst, dass du deine Pferde schon sehr tiergerecht hältst und dann trotzdem das Gefühl hast „Uh, sind die eingesperrt.“

Bei den Wildpferden handelt es sich um ganz andere Dimensionen, wobei das von Land zu Land auch ganz unterschiedlich ist. Es gibt Gebiete da bewegen sich die Pferde gar nicht so viel, weil es geografisch durch Gebirge oder große Flüsse beschränkt ist. In Canada gibt es hingegen riesige Weiden und die Pferde können teils 50 Kilometer durch den Wald laufen.

Wildpferde in der Interaktion
© Marc Lubetzki

Das ist das eine. Das andere sind die gewachsenen Herdenstrukturen – ganz anderes als unsere Haltung Zuhause. Dort sind teilweise mehrere Hengste in einer Herde, die an der Erziehung der Fohlen teilnehmen. Die Pferde wachsen in der Gemeinschaft auf, nicht, wie wir das häufig machen, in Fohlen-, Stuten- oder Wallachgruppen. Wir stellen alte Pferde zusammen auf einem Gnadenhof, was sicherlich auch seine Vorzüge hat. Aber bei den Wildpferden ist es einfach eine ganz andere Sozialkontaktstruktur und ein anderes Sozialverhalten – wenn eine Gruppe aus allen Altersstufen und verschiedenen Geschlechtern besteht, wenn es von sich aus gewachsen ist und nicht der Mensch sagt: „Ihr paart euch bitte“, sondern sie sich selber finden. Das ist ein sehr spannendes Thema. Das kann dann auch sehr interessant sein, wenn man selbst Gruppen zusammenstellt.

In welchen Punkten unterscheidet sich das Leben eines Wildpferdes von unseren domestizierten Pferden beziehungsweise „Nutz“pferden?

Ja, für wilde Pferde ist das Wichtigste die Herde. Und jedes Pferd hat seine Aufgabe. Wenn wir Pferde Zuhause haben entfallen für die meisten diese Aufgabe. Der Hengst sortiert die Herde, stellt sie zusammenstellen und deckt. Stuten sind Mütter, eigentlich nichts anderes, das ist für sie der zentrale Mittelpunkt. Wenn wir also eine Stute Zuhause haben, die keine Zuchtstute ist, sollten wir dieser in irgendeiner Form eine andere Aufgabe geben, damit sie etwas hat. Pferde brauchen Aufgaben.

Wir Menschen sehen leider häufig nur, was wir mit dem Pferd machen wollen. Viele denken leider nicht daran, was das Pferd will und was richtig für das Tier wäre. Mag sein dass es Pferde gibt, denen es Spaß macht geritten zu werden, die auch gerne einen Ausritt machen, weil sie einfach gerne neue Gebiete erkunden. Aber es gibt auch Pferde, die das nicht so gerne mögen. Dann sollte ich andere Aufgaben, wie zum Beispiel Bodenarbeit machen, weil diese Tiere mehr Freiraum brauchen und wir sie so weniger stark eingrenzen. Da kann man gut hinhören.

Lassen sich Wildpferde und Hauspferde überhaupt vergleichen oder sogar gleichsetzen?

Das Interessante ist ja schon der Begriff „Wildpferd“. Was ist überhaupt heute noch ein Wildpferd? Ich weiß gar nicht, ob es das „klassische Wildpferd“ überhaupt noch gibt, aber man könnte es über die Genetik definieren. Daneben muss man die Frage stellen, ob diese Wildpferde auch noch in ihrem ursprünglichen Lebensraum und ohne Einfluss des Menschen leben.

Das andere Extrem ist das Pferd, welches Zuhause alleine in der Box steht. Dazwischen gibt es ganz viele Varianten und wo sich dann Hauspferde und Wildpferde treffen, sind die Unterschiede fast gar nicht mehr vorhanden. Es gibt beispielsweise frei aufgewachsene Wildpferde in Nationalparks, aber auch verwilderte Hauspferde. Hier klauen häufig die Hengste Stuten von Pferdehaltern, um sich diese in die Herde reinzuholen. Es gibt Haltungsformen, die sehr naturnah sind oder solche, in denen Ranger die Herden kontrollieren und Tiere entnehmen… Die Übergänge sind quasi fließend.

Ein Pferd legt die Ohren an
© Marc Lubetzki

Es ist interessant zu beobachten, wo sich welches Verhalten ändert. Ich konnte feststellen, dass die größte Verhaltensänderung dort geschieht, wo der Mensch in die Herdenstruktur eingreift und sagt : „Ich schmeiß da jetzt mal eben nen Hengst rein.“ Oder: „ Ich nehme da die raus und dafür die rein.“ Das ist der größte Einschnitt.

Wilde Hengste haben ein besonderes Feingefühl für die Zusammenstellung einer Herde. Wenn Junghengste und auch Stuten nicht in die Herde passen, werden sie vertrieben. Auf der anderen Seite gibt es Hengstfohlen, die als Hengste in der Herde bleiben dürfen. Die Hengste wissen, was passt und wie die Herde insgesamt homogen ist. Wenn da der Mensch eingreift, ist das das Größte was Schwierigkeiten bereiten kann.

Was bedeutet es Ihrer Meinung nach für ein Pferd, ausschließlich oder überwiegend in einer Box gehalten zu werden?

Oh Gott. Ich hätte mit so einer Frage rechnen müssen. Das geht meiner Meinung nach gar nicht – also Pferde alleine in einer Box zu halten kann nicht zur Diskussion stehen!

Leider wird der überwiegende Teil der Pferde so gehalten. Wie wäre es, wenn das Pferd im Winter stundenweise auf einen Paddock kommt und im Sommer auf die Weide?

Also es gibt keine (Wild)Pferde, die freiwillig alleine leben. Es kann sinnvoll sein, wenn ein Pferd krank ist, therapiert wird, nach Operationen in der Klinik oder ähnliches.  Aber ich gehe jetzt mal von der generellen Haltung aus: Ich kenne keine Pferde in freier Wildbahn, die alleine leben. Ausnahmen sind Hengste, wo die Stute gestorben ist, der Hengst abgelöst wurde und sich zum Sterben zurückzieht. Aber es ist nicht normal, dass ein Pferd alleine lebt. Boxenhaltung – ich weiß gar nicht, was ich dazu noch sagen soll. Pferde benötigen Bewegung und Platz. Pferde stehen teilweise auch sehr dicht zusammen, gerade im Winter, um sich gegenseitig zu schützen. In einer Herde schlafen sie auch dicht zusammen. Wenn sie anfangen zu fressen, dann verteilen sie sich wieder.

Sie schließen eine Box als Haltungssystem also aus. Wie könnte man Ihre Erfahrungen in die heute übliche Pferdehaltung und den Umgang mit Pferden übertragen?

Eine Gruppe nasser Pferde
© Marc Lubetzki

Die Pferde brauchen einen Unterstand. Wir sollten also unsere Hauspferde schon anders behandeln als Wildpferde. Aber sie sollten selber wählen können, ob sie da rein gehen oder nicht. Sie müssen sich frei bewegen können. Ein Offenstall ist super. Optimal sind mehrere Unterstände und breite Zugänge. Die Pferde müssen hinaussehen können, dann fühlen sie sich wohler. Ein einfaches Carport, zur Windseite geschützt mit einer trockenen Liegefläche ist gut.

Ich war überrascht über die eigentliche Frage der Boxenhaltung. Ich sehe Offenstall- und Gruppenhaltung als normal an. Schaut euch genau an, wie die Gruppen zusammengestellt werden. Manchmal kann man eine Gruppe auch teilen, um Ruhe hineinzubringen. In jedem Fall sollten wir auf die verschiedenen Charaktere der Pferde schauen. Wie es in der Herde passt und wie wir mit den jeweiligen Pferden umgehen. Nicht jedes Tier ist gleich. Wir haben in freier Natur Herden mit zwei oder drei Tieren und wir haben Herden mit 40, 50, 60 Tieren und im Winter von mehreren 100 Tieren. Das liegt in erster Linie an den Hengsten und ihren Charakteren, aber auch an der Struktur der Herde. Ich glaube, da können wir noch sehr viel lernen.

Es ist natürlich schwierig das umzusetzen. Wenn ich einen Aktivstall habe mit beispielweise 40 Pferden, da kommen und gehen Pferde.

Im Prinzip wird es einfacher, wenn es mehr Pferde werden. Wenn genug Platz da ist, bilden sich einzelne kleinere Herden. Und bei einer Herde mit 40 Pferden gibt es meist mehrere Herden. Selten führen in der Natur aber auch Hengste so große Herden alleine.

Wie ist es in unseren Hauspferdegruppen. Dort gibt es seltener Hengste sondern meist Wallache. Welche Stellung hat der Wallach. Wie ordne ich ihn ein?

Beim Wallach ist es sehr unterschiedlich. Das hängt vom seinem Charakter ab und beispielsweise vom Zeitpunkt des Legens (Alter bei der Kastration). Wenn ich eine kleine Herde habe, sucht sich der Hengst eine starke Stute aus. Dann führt oft die Stute mehr und der Hengst hält sich im Hintergrund. Bei Gefahr kommt dann aber auch der vorsichtige Hengst und schützt die Herde. Wenn ich einen starken Hengst habe, dann ergänzt die Leitstute diesen Hengst. Insgesamt entsteht also immer ein Gleichgewicht, auch wenn es mehrere Stuten sind. Das ist leider ein wenig komplizierter. Aber wenn man sich in bisschen damit beschäftigt, dann macht es auch Spaß und man kann daraus ganz viel ableiten.

Ein Pferd kommt über ein Hügel
© Marc Lubetzki

Was können die Pferdehalter, Reiter und Stallbetreiber besser machen im Umgang und der Haltung?

Es ist die Summe der Kleinigkeiten, die am Ende die große Veränderung bringt! Wie begrüße ich das Pferd? Wie gehe ich auf das Pferd zu? Mit welcher Stimme spreche ich, wenn ich überhaupt spreche? Wenn ich bei Wildpferden bin, spreche ich wochenlang gar nicht.  Das sind ganz viele Kleinigkeiten, die ich beobachten kann, wie ein kleines Brummeln, bevor die Herde aufbricht, auch bei meinen eigenen Pferden.

Wie kann ich das lernen? Gibt es so etwas wie eine universelle Pferdesprache, bestimmte Regeln?

Auf meiner Webseite biete ich ein Seminar an. Dort zeige ich Aufnahmen von Wildpferden und gebe dazu Gedanken und Anregungen, wie man das auf Hauspferde übertragen kann. Einmal die Woche gibt es ein neues Video, das man sich ansehen kann. Wichtig im Umgang ist, dass man bei der Umsetzung nicht zu viel auf einmal will. Das Neue könnte das Pferd auch verwirren. Pferde lernen gerne vom Menschen, aber hier sollten wir genau überlegen was.
Es gibt viele gute Pferdetrainer, die uns die Pferdesprache zeigen. Für Pferde entspricht die Körpersprache einer verbalen Kommunikation beim Menschen. Also wenn ich etwas zum Pferd sage, muss ich  auch auf die Antwort des Pferdes warten. Und dementsprechend sollte ich wiederum auf diese Antwort reagieren. Ich darf keinen Vortrag halten und Anweisungen geben. Ich muss auf das Pferd achten und flexibel sein.

Wie läuft die Kommunikation innerhalb einer Herde ab?

Wilde Pferde leben viel mehr im Rhythmus der Natur. Als Mensch fühle ich mich nach einiger Zeit da rein. Es gibt fließende Übergänge, zum Beispiel nach dem Ruhen. Der Hengst ist durchaus auch zu Kompromissen bereit. Allerdings gibt es auch Momente, wo er sehr klar und bestimmt die Richtung angibt. Pferde sind kompromissbereit, aber dabei sehr klar. Sehr wichtig ist dabei das Vertrauen in den Hengst und untereinander. Als Mensch darf ich dieses Vertrauen meines Pferdes zu mir niemals enttäuschen.

Wenn wir nun von Vertrauen, Einheit und Rhythmus der Herde sprechen. Möchtest du dich da zu den Sportpferden äußern?

Interessanterweise gibt es recht viele Turnierreiter und Sportreiter, die sich an mich wenden. Sie reiten zum Beispiel Hengste und möchten Tipps haben. Für den Rhythmus beispielsweise als Bereiter kann ich den unterschiedlichen Rhythmus der Pferde berücksichtigen. Wenn ein Pferd zur Trainingszeit gerade schlafen würde, ist es für das Pferd schwer. Wenn ich meine Pferde beobachte, kann ich anhand ihrer unterschiedlichen Bedürfnissen je nach Alter und Veranlagung optimalere Trainingszeiten für jedes Pferd finden, statt stur Box für Box nacheinander durchzugehen. Das ist ein kleiner Anfang, den jeder Turnierreiter machen kann. Die Arbeit wird dadurch besser und das Pferd fühlt sich wohler. 

Wir müssen davon ausgehen, dass über die Hälfte der Pferde derzeit in Boxen gehalten werden. Was wäre Ihr Wunsch für die Pferdehaltung in Deutschland?

Ich freue mich, wenn es immer ein bisschen besser wird. Ich verteufle auch niemanden, der sein Pferd in einer Außenbox oder Box mit Paddock hält. Aber ich möchte, dass es immer ein Stückchen besser wird auf allen Ebenen. Auch in Offenstallhaltungen gibt es Verbesserungsbedarf. Es gibt tolle Offenställe und es gibt auch Offenställe, die sind katastrophal. Wenn die Herde nicht zusammenpasst, gibt es zum Beispiel ständig Streit beim Fressen. Die Pferde dürfen auch nicht nur im Matsch stehen – aber Matsch ist in Ordnung, solange es auch trockene Flächen gibt. Was ich in Offenställen häufig sehe, ist, dass ein Heunetz irgendwo in die Ecke gehängt wird. Da wären mehrere Außenfressplätze viel besser. 

Ein Portrait von Marc Lubetzki
© Marc Lubetzki

Haben Sie eine Botschaft an Reiter und Pferdehalter, die Deutsche Reiterliche Vereinigung?

Für mich ist jedes Pferd anders. Ich kann nicht generalisieren und sagen: „Es ist so.“ Bei jedem Umgang, Verhalten und jeder Kommunikation muss ich das Pferd als eigene Persönlichkeit sehen. Das ist mir das Wichtigste.

Vielen Dank.

Das Interview führte Kathrin Kofent

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