Die Ringelschwanzprämie

…ein idealer Vorläufer des Bonitierungssystems für Tierwohl

03.02.2013: c: Ist er gesund und geringelt, geht es dem Tier gut. Hängt er, wird eingeklemmt, ist nekrotisch (Gewebe stirbt ab) oder verletzt,  zeigt dies Unwohlsein, Krankheit oder Kannibalismus an. Zum Kannibalismus zählt vor allem das Schwanzbeißen, das in der industriellen Schweinehaltung wesentlich häufiger als in extensiver Haltung vorkommt. Schwanzbeißen führt zu Schmerz, Leid und Stress bei den Tieren und kann zu beträchtlichen wirtschaftlichen Einbußen beim Tierhalter führen. Deshalb wird den Ferkeln wenige Tage nach der Geburt der Ringelschwanz seit Jahrzehnten routinemäßig und betäubungslos gekürzt, obwohl dies in der Europäischen Union (EU) seit 2003 verboten ist.
 
In der EU-Richtlinie ist vorgeschrieben, dass nur in Ausnahmefällen und nur nach vorheriger Verbesserung der Haltungsbedingungen, zum Beispiel mehr Platz, der Schwanz kupiert werden darf. Die Bereitstellung von ausreichend natürlichem Beschäftigungsmaterial ist ebenfalls vorgeschrieben. Aber all dies haben die Schweinehalter vor allem aus Kostengründen ignoriert. Die EU-Kommission duldete die Verstöße bislang europaweit – bis PROVIEH 2009 eine Beschwerde gegen Deutschland in Brüssel einreichte.

Zwei Ringelschwänze
© PROVIEH

Es gab anfangs tatsächlich einige ungelöste Fragen und Probleme, die einen sofortigen Verzicht auf das Kupieren ohne einen völligen Stallsystemwechsel unmöglich erscheinen ließen. Grundsätzlich aber ist das so genannte „Schwanzbeißen“ ein sichtbares Zeichen einer überforderten Anpassungsfähigkeit der Schweine an die üblichen Haltungs- und Managementbedingungen. Durch praxisnahe Feldstudien in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Betrieben mit Vollspaltenböden konnten die wichtigsten Ursachen für Schwanzbeißen 2012 schlüssig aufgeklärt und praxisreif mit einfachen Mitteln behoben werden. Sie sind sofort umsetzbar, ohne umfangreiche Neu- oder Umbauten.

Den Durchbruch im Verstehen und Beheben des Schwanzbeißens bei Schweinen schaffte Professor Friedhelm Jaeger aus dem Referat für Tierschutz im nordrhein-westfälischen Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz. Er führte Studien nach ausführlichen Vorgesprächen mit Fachleuten und PROVIEH durch und veröffentlichte seine Ergebnisse im Heft 1-2/2013 der Zeitschrift „Tierärztliche Umschau“. Er zeigte dass Schwanznekrosen und Schwanzbeißen entgegen verbreiteter Meinung nicht erst in der Mast einsetzen, sondern schon in den Ferkelaufzuchtbetrieben bei den wenige Wochen alten Ferkeln. Nach seiner Einschätzung hätten rund 60 Prozent der Ferkel Probleme mit dem Schwanz, würde dieser unter den gängigen Haltungsbedingungen nicht vorbeugend gekürzt werden. Es liegt also ein massives Problem vor. Professor Jaeger hat es gelöst. Er fand, dass vor allem vier Ursachen zu Schwanzproblemen führen.

Ursache 1: Wie PROVIEH schon im Vorfeld der Versuche betonte, werden die Ferkel zu früh von der Muttersau abgesetzt, in Deutschland meist schon nach ca. 21 Tagen, wenn der Darm und die Darmflora der Ferkel noch nicht weit genug entwickelt sind. Darmprobleme sind die Folge.  Sie werden verschärft durch die zu hohe Konkurrenz der Ferkel um die gut funktionierenden Zitzen der Muttersau, die wegen extremer Zucht auf hohe Ferkelzahlen mehr Ferkel wirft, als sie angemessen ernähren kann. Kommen die schwächeren Ferkel nicht richtig zum Zuge, nehmen sie nach Beobachtungen von Praktikern beim „Suchen“ häufig den Ringelschwanz der säugenden Ferkel ins Maul, um daran zu saugen und zu lutschen. Das konditioniert die Tiere für das spätere Schwanzbeißen, das in vielen Fällen als ein fehlgeleitetes Suchverhalten gelten kann.

Ursache 2: Die Trinkwasserversorgung ist oft mangelhaft. Wenn Ferkel nach dem Absetzen von der Muttersau in den Aufzuchtstall kommen, kennen sie die Nippeltränken noch nicht und können sie nicht richtig bedienen. Die Ferkel leiden dann an Durst. Wird ihnen eine Schale mit Wasser angeboten, so stürzen sie sich darauf und trinken gierig. Doch auch die Qualität des angebotenen Wassers lässt oft zu wünschen übrig. Eine mangelhafte Wasserversorgung schwächt die Nieren und die Immunabwehr. Das befördert die Bildung von Schwanznekrosen.

Ursache 3: Gleich nach dem Absetzen von der Muttersau wird den Ferkeln zu energiereiches Futter angeboten, das ihren noch unreifen Darm überfordert. Deshalb gelangen zu viele Nährstoffe unverdaut in den Dickdarm und sind dort ein „gefundenes Fressen“ für bestimmte Stämme des Darmbakteriums Escherichia coli, die natürlicherweise in nur geringer Zahl vorkommen und Endotoxine bilden können. Diese Gifte verursachen weder Fieber noch Durchfall, das Ferkel wirkt also nicht offensichtlich krank. Doch hält die Überforderung des Darms und des Immunsystems an, vermehren sich die Bakterien rasant. Dann entstehen massenhaft Endotoxine, die durch die Darmwand in die Blutbahnen gelangen. Sie erzeugen zum Beispiel Entzündungen in Herz und Nieren und Nekrosen in schwach durchbluteten Körperteilen wie Ohrrändern und Ringelschwanz. Die absterbenden Schwanzpartien jucken häufig, so dass die Tiere sich geradezu nach dem Beknabbern durch Buchtengenossen sehnen, das ihnen Linderung bringt. Deshalb bieten sie ihren Ringelschwanz oft geradezu waagerecht ausgestreckt zum Beißen an – so entsteht ein Teufelskreis, der das Problem verschlimmert.

Ursache 4: Der übliche Mangel an geeignetem Strukturfutter in der Aufzucht und im Maststall destabilisiert bei den Schweinen die Darmflora und die Gesundheit, lässt das Wühl- und Kaubedürfnis unbefriedigt und erzeugt trotz Aufnahme von Kraftfutter zu wenig Sättigungsgefühl. Diese Mängel führen oft zu frustrationsbedingtem Schwanzbeißen, auch wenn die Ursachen 1 – 3 schon beseitigt sind. Erst als die Ferkel und Mastschweine der Versuchsbetriebe in NRW eine tägliche Ration kaubaren Raufutters bekamen (zum Beispiel Stroh oder Maispflanzen), traten Nekrosen oder Schwanzbeißen nicht mehr auf.

Die bahnbrechende Beweiskette von Professor Jaeger stellt einen Meilenstein in der Überwindung des Schwanzkupierens und der Schwanzbeißproblematik dar. Ferkelerzeuger und Mäster erhalten konkrete Hinweise, wie sie ihr Management verbessern können. Andere wichtige Management- und Haltungsbedingungen, die bisher dem Tierwohl schaden und das Schwanzbeißen fördern können, dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden. 

Die Ringelschwanzprämie als Ausgleich für Verbesserungsmaßnahmen

Wie gezeigt ist ein unversehrter Ringelschwanz ein idealer tierbezogener Indikator für Tierwohl. Doch die Maßnahmen zur Verhinderung von Schwanznekrosen und Schwanzbeißen, von PROVIEH in einem Leitfaden zusammengestellt, führen zu Mehrkosten, die bei den ruinösen Schweinepreisen keinesfalls vom Tierhalter selbst getragen werden können. Deshalb schlägt PROVIEH die Einführung einer Ringelschwanzprämie vor. Diese Prämie könnte eine zügige Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen vorantreiben und ein echtes Mehr an Tierwohl in sehr vielen Schweineställen bewirken – ohne großen bürokratischen Aufwand und noch in diesem Jahr. Die Ringelschwanzprämie wäre also ein idealer Vorläufer für das Anreiz- und Bonitierungssystem für mehr Tierwohl, das PROVIEH in den letzten beiden Jahren in einem Initiativkreis mit Vertretern aus dem Einzelhandel, Erzeugern und der Schlachtbranche erarbeitet hat und über das bereits Branchen-Gespräche angelaufen sind (siehe Heft 4/2012).
 
Die Tierhalter sollen nach unserer Auffassung einen Leitfaden an die Hand bekommen, wie sie Schwanznekrosen und Schwanzbeißen vorbeugen können. Beraterringe und Landwirtschaftskammern müssten entsprechend geschult werden.

Schwanznekrose
© PROVIEH

Die an der Waage der Schlachthöfe tätige unabhängige Kontrollstelle kann die Ringelschwanzgesundheit überprüfen und den Befund direkt an einen Fonds melden. Der Lebensmitteleinzelhandel soll den Fonds mit ausreichend Geld ausstatten, damit die Tierhalter die Prämie ohne Umwege als unmittelbare Aufwandsentschädigung für jedes Schwein mit heilem, gesunden Ringelschwanz erhalten. Bereits 2012, nach einer von PROVIEH und seinen Initiativkreis-Partnern angestoßenen Diskussion um ein Bonitierungssystem für mehr Tierwohl, hat sich der Lebensmitteleinzelhandel zu dieser Verantwortung grundsätzlich bekannt und sich zur Finanzierung der notwendigen Maßnahmen bereiterklärt. Die Vorbereitungen zur Einführung des Fonds laufen bereits und könnten im Sommer 2013 abgeschlossen sein.

Das wäre eine sehr gute Nachricht für die Schweine und ein wunderbares Geburtstagsgeschenk für den Verein PROVIEH, der am 15. Juni 2013 vierzig Jahre alt wurde.  

Sabine Ohm, Europareferentin


Beitrag teilen