RespekTIERE Leben:

Gründe für einen respektvollen Umgang mit unseren „Nutztieren“ und ein Umdenken in der modernen Nutztierhaltung

PROVIEH tritt seit 50 Jahren vehement dafür ein, die Bedürfnisse jeder Tierart differenziert zu betrachten und die Tierhaltungssysteme zum Wohle der Tiere zu verbessern. 

Die „moderne” industrielle Tierhaltung passt die Tiere der Haltung an. Schwänze werden abgeschnitten, Schnäbel kupiert, Hornanlagen ausgebrannt oder verätzt. Küken und Kälber wachsen mutterlos auf. In Metallkäfige gezwängt gebären Sauen ihre Jungen, bis sie ihnen nach drei bis vier Wochen weggenommen werden. Doch wie würde die Tierhaltung aussehen, wenn wir die Tiere zu ihren Bedürfnissen befragen könnten? 

Tiere sind fühlende Wesen, die Schmerzen und Leiden spüren. Das haben zahlreiche Studien und wissenschaftliche Arbeiten zweifelsfrei bestätigt. Auch Emotionen wie Angst, Freude, Wohlgefühl sowie Optimismus und Pessimismus wurden nachgewiesen. 

Die Natur der Tiere 

Warum möchte die Sau, auch auf Spaltenboden und in einen Kastenstand gesperrt, ein Nest bauen? Wie fühlt sich eine Legehenne, die lebenslang jeden Tag den Drang verspürt ein Nest zu bauen? Schwänze und Schnäbel lassen sich abschneiden, aber Instinkte und arttypische Verhaltensmuster lassen sich nicht wegzüchten – auch wenn sie durch ein bestimmtes Haltungsumfeld unterdrückt werden, verschwinden sie nicht. So scharren, picken und sandbaden aus Käfighaltung gerettete Legehennen, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten. Ebenso beginnen Schweine, die nur Spaltenböden und Kunstlicht kannten, im Freien im Erdboden wühlend nach Nahrung zu suchen und suhlen sich zunächst zaghaft, dann leidenschaftlich im Matsch. 

PROVIEHs Zukunftsvision einer Tierhaltung, die sich an den arteigenen Bedürfnissen orientiert: 

  • Kompletter Verzicht auf Verstümmelungen 
  • Kleinere Herden/Gruppen 
  • Keine Qualzuchten 
  • Einsatz von Doppelnutzungsrassen 
  • Muttergebundene Kälber- aufzucht 
  • Freies Abferkeln und längere Aufzucht 
  • Freilandhaltung: Kühe, die auf der Weide grasen, Schweine, die im Erdreich wühlen und Hühner, die nach Würmern picken!

Was nicht passt, wird passend gemacht 

Ein nicht auslebbares Erkundungs- und Nahrungssuche- und gegebenenfalls Nestbauverhalten führt insbesondere bei Schweinen, Hühnern und Puten zu einem Abreagieren an Artgenossen durch Schwanzbeißen, Federpicken und anderen Verhaltensauffälligkeiten. Aus diesem Grunde sind Verstümmelungen von Ringelschwanz und Schnabelspitzen durch deren Amputationen das Mittel der Wahl. Bei Rindern werden die Hornanlagen ausgebrannt, damit pro Tier weniger Platz in der überwiegend üblich gewordenen Stallhaltung benötigt wird. In der modernen Landwirtschaft werden die genutzten Tiere an das System angepasst. 

Arme Sau 

Der Nestbautrieb setzt bei der Sau einige Tage vor dem erwarteten Geburtstermin der Ferkel ein. Unter natürlichen Bedingungen würde die Sau einen ruhigen, geschützten Ort, beispielsweise im Wald, aufsuchen und dort aus Laub, Gras und Zweigen ein Nest für ihre Ferkel bauen. In der industriellen Haltung als Zuchtsau wird sie, beginnend eine Woche vor der Geburt bis zur Wegnahme der Ferkel im Alter von 21 bis 28 Tagen, in einen Metallkäfig, den sogenannten Kastenstand, eingeschlossen. Weder das Nestbauverhalten noch die mütterlichen Instinkte rund um Geburt und Versorgung des Nachwuchses sind ihr möglich. Immerhin hat der massive Druck, unter anderem von PROVIEH, auf die Politik 2021 eine Änderung der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung bewirkt. Die Haltungsdauer im Kastenstand wird in Zukunft von 35 auf fünf Tage Maximaldauer reduziert. Wie so oft üblich, wurde allerdings eine Übergangsfrist bis Anfang 2036 eingeräumt. 

Jeden Tag ein Ei 

Die Vorfahren der heutigen Legehybridrassen haben, wie andere Bodenbrüter auch, zwei bis dreimal im Jahr gebrütet und Küken aufgezogen. Je nach Größe der zukünftigen Glucke und der Eier legte die Henne innerhalb von ein bis zwei Wochen neun bis 13 Eier, bevor mit dem Brüten begonnen wurde. Nach 21 Tagen schlüpften die Küken. Die in der industriellen Eierproduktion am häufigsten gehaltenen „Lohmann Brown“ Hennen legen nahezu täglich ein Ei – das ganze Jahr über. Ihrem täglichen Drang, ein Nest zu bauen, können sie nicht nachkommen, weil es statt Gras und Zweigen nur eine Kunstrasenmatte gibt. Auch erreichen sie nie eine Anzahl von Eiern, um mit dem Ausbrüten ihrer Nachkommen anzufangen. Denn jedes gelegte Ei verschwindet sofort über die Abrollfunktion der „Nester“. 

Dauerhungrige Turbohühner 

Ein Beispiel für die Verstärkung von Bedürfnissen durch die moderne Nutztierzucht ist das angezüchtete starke Hungergefühl bei Masthühnern. Im Labor „kreierte“ Rassen wie Ross 308 und Cobb 500 wachsen in kürzester Zeit zu stattlichen Brathühnern heran. Den Preis zahlen die Tiere durch diverse gesundheitliche Beeinträchtigungen aufgrund des schnellen Wachstums und der Körperfülle. Das besondere Problem dabei: Auch die Elterntiere besitzen das übernatürlich große, ständige Hungergefühl. Da die Elterntiere aber nicht verfetten sollen, werden diese nur rationiert gefüttert. Dadurch leiden sie zeitlebens, nahezu durchgängig 24 Stunden täglich, an sieben Tagen die Woche unter einem extremen Fressbedürfnis, was sie niemals stillen können.  

Gestörte Mutter-Kind-Beziehungen 

Die elternlose Aufzucht, wie auch die frühzeitige Trennung von Muttertieren von Küken, Kälbern und Ferkeln hat durchweg negative Auswirkungen für die betroffenen Tiere. Milchkühe leiden nachweislich unter der Wegnahme ihrer Kälber. Kuh und Kalb rufen teilweise mehrere Tage nacheinander. Bei Küken wurde als Folge der mutterlosen Aufzucht festgestellt, dass deren Gehirne asymmetrischer ausgebildet waren als bei Küken, die durch eine Ziehmutter aufwuchsen. Daraus lässt sich eine lebenslange Beeinträchtigung für mutterlos aufgezogene Hühner ableiten. Die mütterliche Führsorge sowie das Erlernen durch Nachahmen entfallen in der industriellen Tierhaltung. 

Distanzen überwinden: Gerade einmal knapp zwei Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Die übrigen 98 Prozent besuchen selten bis nie einen landwirtschaftlichen Tierhaltungsbetrieb. Den Zusammenhang zwischen dem Schnitzel auf dem Teller, der Milch im Kaffee oder dem Frühstücksei zu einem fühlenden Wesen herzustellen fällt vielen schwer. Die Distanz zum lebensmittelliefernden Tier ist groß. Auch Landwirt:innen selbst fehlt nicht selten der Bezug zum Tier und seinen Bedürfnissen und an den Landwirtschaftsschulen wird den Bedürfnissen der „Nutztiere“ viel zu wenig Bedeutung beigemessen. Zudem bleibt im Alltag, bei all den Vorschriften und dem enormen Verwaltungsaufwand für einen durchschnittlichen landwirtschaftlichen Betrieb und unter dem Gesichtspunkt des enormen wirtschaftlichen Drucks, wenig Raum für das Tier selbst. Hier bringt PROVIEH sich mit seiner Expertise als Fürsprecher und Anwalt der „Nutztiere“ ein, und baut Brücken, um an einer besseren Welt für Mensch, Tier und Natur beizutragen.

Kein Raum für Individualität 

Tiere sind anders als wir Menschen, und jede Tierart hat ihre besonderen, arteigenen Bedürfnisse. Das ist wichtig zu wissen, um diese Bedürfnisse richtig zu lesen und Schlüsse für eine bedarfsgerechte Haltung daraus zu ziehen. Auch Laute, Körpersprache und Gebärden innerhalb einer Tierart sind ein wichtiger Schlüssel, um ihre Befindlichkeiten verstehen zu können. Durch genaue Beobachtung und „Zuhören“ könnten Landwirt:innen viele wertvolle Informationen ableiten und so Befindlichkeiten in ihrem Tierbestand schneller erkennen und Bedürfnisse leichter einordnen. 

Neben den arteigenen Verhaltensweisen und Bedürfnissen hat jedes Tier außerdem unterschiedliche, persönliche Eigenschaften: Abenteuerlustig oder sicherheitsbedürftig, introvertiert oder extrovertiert, jedes einzelne Individuum einer Tierart hat nochmal ganz eigene Anforderungen an die Umwelt. Somit reagiert jedes Tier auch unterschiedlich empfindsam auf äußere Umstände. Wenn in der industriellen Tierhaltung für die grundsätzlichen, arteigenen Bedürfnisse schon kein Raum ist, können individuelle Unterschiede erst recht nicht berücksichtigt werden. Innerhalb einer Milchkuhherde wäre dies noch halbwegs realistisch, doch bei 39.000 Masthühnern in einem Stall ist das nicht mal im Ansatz möglich. 

Tierhaltung der Zukunft 

Mit der neuen Kampagne „Legalisierte Tierqual beenden!“ setzt PROVIEH sich für ein Ende von Verstümmelungen wie dem Schwanzkupieren, der Qualzucht und das damit verbundene Abverlangen von körperlichen Höchstleistungen sowie der Anbindehaltung von Rindern ein. Die körperliche Unversehrtheit sollte das absolute Mindestmaß bei der Tierhaltung sein. Dazu müssen die arteigenen Bedürfnisse jeder Tierart beachtet, miteinbezogen und auch bei der Gestaltung von Gesetzen, Verordnungen und Leitlinien einfließen. Tiere sind keine Gegenstände, die nach Belieben zurechtgestutzt und in eine Ecke „gequetscht“ werden können, sondern Wesen mit Bedürfnissen und Gefühlen, die es zu respektieren gilt. 

Kathrin Kofent

Buchtipp: „Wie Tiere fühlen“ von Per Jensen Der schwedische Ethologe Per Jensen liefert mit diesem Buch einen sehr wertvollen Wissensschatz und nimmt uns auf liebevolle, empathische und gleichsam wissenschaftliche Weise mit in die Welt unserer „Nutztiere”. Dieses Buch sollte Pflichtlektüre für alle Entscheidungsträger:innen in Politik, Handel und Wirtschaft sein, wie auch für alle Tierhalter:innen und die Verbraucher:innen, um alle Genannten wieder näher zu den Tieren bringen. Das aus diesem Buch gewonnene Wissen lässt Verständnis, Mitgefühl und Respekt wachsen und wahres Verantwortungsbewusstsein für unsere Mitgeschöpfe entstehen. Wie Tiere fühlen… und warum wir mit unseren Nutztieren respektvoll umgehen müssen. Ein Plädoyer für eine bessere Welt, mehr Tierwohl und Tierschutz NATIONAL GEOGRAPHIC, ISBN: 9783866907614, Erscheinungsdatum: 26.03.2021, 208 Seiten, 27,99 €

Dieser Artikel ist im PROVIEH-Magazin „Respektiere leben.“ erschienen, Ausgabe 3-2023

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