Man kann an der Menschheit verzweifeln, aber nicht an der Tierwelt
Interview mit John von Düffel von Annette Behr
Der Buchautor und Dramaturg John von Düffel hat während des Lockdowns einen neuen Familienroman geschrieben. Ein Gespräch mit ihm über Wut, Schuld und das Verhältnis von Menschen zur Natur.
Sie werfen auf die Menschen in Ihrer Geschichte Blicke wie durch ein Brennglas. Hat uns die Zeit im Lockdown wachgerüttelt?
Ich sehe es als eine Aufgabe der Literatur, eine Lesart für das veränderte Leben anzubieten – eine Folie von Geschichten, Figuren und auch Sätzen auszurollen, die mal wie ein Spiegel ist und mal wie etwas, zu dem man sich selbst ins Verhältnis setzt. Erst durch diese Art der Reflexion entsteht Erfahrung. Wir müssen sie „machen“. Wachheit entsteht durch Bewusstmachung. In der Anfangszeit der Pandemie, in der die Geschichte spielt, können wir wie in einem Brennglas viel über uns und die Veränderung unseres Lebens erkennen.
War es die Wut oder die Schuld, die Sie angetrieben hat, dieses Buch zu schreiben?
Es gab für mich viele Momente von Enttäuschung und Wut im Zuge der Pandemie und auch die Erfahrung der Grenzen von Wut. Hinzu kommen bittere Momente, in der sich das Schuldgefühl des Überlebens einstellt. Wie der Rabbi im Roman sagt: „Es gibt eine Schuld des Überlebens, auch wenn wir ja „nichts dafür können“. Diese merkwürdigen Augenblickserfahrungen wollte ich in einen Kontext bringen. Dazu braucht es eine größere Erzählung, die Anknüpfung an die großen Fragen – und die Sinnfrage dieser Krise gerade jetzt.
Die Tiere sind auch in der Pandemie nicht das Problem, schreiben Sie. Dämmert die „räuberische Gattung Mensch“ weg in eine „Pharmaziezeit“?
Die Pandemie ist aus meiner Sicht ein Symptom für unser aus dem Lot geratenes Verhältnis zur Natur. Die Schuld, dass wir die mörderischste Gattung des Planeten sind, die so viele andere auf dem Gewissen hat und sich über alle natürlichen Grenzen hinwegsetzt, bleibt. Es ist eine folgenschwere Entscheidung, nicht nur darüber wütend zu sein, sondern auch sein Leben entsprechend zu ändern und für Veränderung zu sorgen. Allerdings ist zu befürchten, dass sich die meisten lieber betäuben und das Problem verdrängen, als es anzugehen.
Brennende Wälder, Überschwemmungen, Umweltkatastrophen. Wie gehen wir damit und mit unserer Schuld um?
Zunächst mal muss man feststellen, dass ein extremer Wandel in rasender Geschwindigkeit stattgefunden hat und weiter stattfinden wird, das ist eine Tatsache. Wir leben in Mitteleuropa nicht mehr in einer gemäßigten Klimazone und stecken in einer Dynamik, die immer unkontrollierbarer wird, weil wir hart an dem kritischen Punkt unumkehrbarer, sich selbst potenzierender Zerstörung sind. Die Frage der Schuld ist dabei, wie ich finde, eine große, lähmende und hilflos machende Frage, weil sie ja meist auch rückwärtsgewandt gestellt wird. Deswegen würde ich gerne von Verantwortung sprechen, die hört nicht auf. Und leider werden wir ihr noch immer nicht gerecht. Ich persönlich würde mich zu denen zählen, die es wenigstens versuchen, und zwar ernsthaft. Aber insgesamt dominiert auf allen Ebenen die Unverantwortlichkeit.
Apropos: Wir teilen Tiere in Haus- und Nutztiere ein. Die einen werden verhätschelt, die anderen gequält. Was tun Sie, bzw. würden Sie tun, wären Sie Landwirtschaftsminister in der neuen Bundesregierung?
Die Schizophrenie, die Sie ansprechen, ist ja die übertriebene Empathie oder Tierliebe auf der einen Seite und die absolute Empathielosigkeit auf der anderen. Das hat etwas mit mangelnder Nähe zu tun. Jeder, der mit sogenannten Nutztieren lebt, seine Kühe, Schweine, Ziegen kennt, fühlt auch mit ihnen. Sie sind wie Mitglieder einer erweiterten Familie. Die industrielle Nutzung ist ja nur durch Wegschauen, Ignoranz und Verdrängung möglich. In ihr setzt sich ein grundsätzlich gestörtes Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Mensch und Tier insbesondere fort. Insofern würde ich – wenn ich Landwirtschaftsminister wäre – mein Ministerium sofort mit dem Familien- und Bildungsministerium vereinigen und dafür sorgen, dass neben dem fortschrittsgetriebenen Digitalisierungsdruck eine echte Beziehung zu Tier und Natur ganz oben auf der Agenda steht. Die Fürsorge und Pflege ebenso wie die Kultivierung von Natur kann ja nicht nur Sache einiger weniger Bauern sein. Es geht darum, ein Naturverhältnis aller aufzubauen – und das versuche ich auch vorzuleben.
Wie leben Sie das, Sie sind (noch) kein Vegetarier?
Es gibt ein großes Bewusstsein, wie „Tierproduktion“ geschieht. Mir ist die Grausamkeit und die Ausbeutung sehr bewusst. Daher wird in meiner Familie sporadisch Fleisch gegessen. Mein Großvater hatte Tierhaltung. Wir kannten sämtliche Tiere mit Namen und haben Sie trotzdem gegessen. Es muss für mich kein Widerspruch sein, dass man mit Tieren lebt, sie liebt und gleichzeitig Tiere isst. Das hört sich etwas kannibalistisch an, aber ich empfinde es nicht als Gewalt gegen die Natur. Aber ich will nicht ausschließen, dass ich irgendwann ganz auf Fleisch verzichte.
In Ihrem aktuellen Roman kommen viele Tiere wie: Katze, Mäuse, Tauben, Eisbär vor. Aber kein Schwein, Kuh, Ziege, Schaf…?
Im Mittelpunkt meines Romans steht eine abwesende, in die Psychiatrie weggesperrte Figur, der Meeresbiologe Holger Thomann, der mit seiner Empathie und Liebe zur Natur nicht aushält, was mit der Tier- und Pflanzenwelt landauf, landab geschieht. Es gibt auch einen Tierarzt in der Uckermark, bei dem er als frisch gebackener Abiturient ein Praktikum gemacht hat – und die Krankheiten in Schweinemastbetrieben, die Geflügelfarmen etc. gesehen und erlebt hat. Bei der Geburt eines Kalbs ist er zusammengebrochen. Will sagen: Er macht eben nicht den Unterschied, den Sie ansprechen. Er kann auch um eine Wespe weinen oder um eine in den Wehen brüllende und röchelnde Kuh. Sein Vater, ein Pfarrer a. D., der diese Empfänglichkeit und Verletzlichkeit seines Sohnes schon früh beobachtet, zwingt sich und seinen Sohn zum Haustier-Zölibat, um den Jungen zu schützen. Das macht natürlich nichts besser. Denn jeder, der ein Gefühl oder Gespür für Tiere hat, muss an der vorherrschenden Lebensweise verzweifeln.
Leben auch in Ihrer Familie (Haus-) Tiere?
Aber ja, wir haben sogar vier Haustiere. Allesamt echte Familienmitglieder: ein Kater und drei Katzen.
Was bedeuten Sie Ihnen?
Ihre Nähe ist unkompliziert, unmittelbar und tröstlich, wenn mir alles auf der Welt zu viel wird. Mensch und Tier verbindet mehr, als unsere technisierte Denkweise wahrhaben will. Man kann den Glauben an die Menschheit verlieren, aber nicht an die Tierwelt.
Das klingt hoffnungsvoll. Was tröstet und heilt Sie noch?
Meine Familie und meine Arbeit. Wenn ich in den vorigen Antworten etwas missionarisch oder verzweifelt geklungen habe, dann ist das nur ein Ausschnitt von meinem Ausschnitt der Welt. Wenn man Familie hat, ist es nahezu unmöglich aufzugeben. Und, ich schätze mich sehr glücklich, meine Arbeit machen zu können, die keineswegs im Missionieren besteht, sondern im Beobachten und Beschreiben dessen, was ist. Im Gegensatz zu dem gescheiterten Pfarrer in dem Roman bin ich kein Prediger, sondern jemand, der eine Sprache sucht für die Veränderung unseres Lebens.
Buchtipp „Die Wütenden und die Schuldigen“
Romanautor, Dramaturg und Essayist John von Düffel hält der Menschheit den Spiegel vor. Mittels Lupe und szenischer Schreibe schaut er auf die Lockdown-Welt und die alten Fragen. Die einzelnen dicht erzählten Geschichten verbreiten Unruhe. Ein flirrender Flirt mit Leben, Tod, Zwischenzeit und Katze. Philosophisch. Poetisch. Provozierend.
- Herausgeber: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG; 1. Edition (16. Juli 2021)
- Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
- ISBN-13 : 978-3832181635
- Preis: 22,- Euro