Bauernhoftiere – Mehr als nur Fleisch- und Milchlieferanten

Lukas liebt Schafe über alles. Nach dem Streicheln von Wollschaf Whitey riecht der Neunjährige immer wieder an seinen mit Schafgeruch getränkten Händen. Nach einer Weile legt er den Kopf auf das geduldige Tier und taucht ganz intensiv in den Schafgeruch ein. Im weichen Wollfell kann sich der sonst so vorsichtige Junge perfekt entspannen. Lukas und Whitey verstehen sich buchstäblich blind. Denn Lukas ist seit seiner Geburt blind. Während er die Hand beim Streicheln der Ziege nach kurzer Zeit wegzieht, hat er Schafen nach ein paar Hofbesuchen total vertraut.

Lukas tastet sich an die Schafe heran und versinkt glücklich im Fell © Bauernhof Göhring

Tiere als Türöffner und Fitnesstrainer

Viele Menschen haben schon einmal von einer Delfintherapie im fernen Florida gehört. Auch Hunde haben bereits als „Sozialarbeiter“ in Kindergärten und Schulen Karriere gemacht. Dagegen ist tiergestütztes Arbeiten mit Bauernhoftieren oft für viele noch Neuland.

Grundsätzlich soll die tiergestützte Förderung bestehende Therapien ergänzen. Über das Medium Tier kann ein Therapeut zu einem traumatisierten Kind schneller einen Kontakt herstellen und spezifisch psychotherapeutisch intervenieren. Da fast alle Menschen Tiere mögen, ist die Zielgruppe potenzieller Patienten groß: vom sprach- oder entwicklungsverzögerten Kleinkind über Kinder mit Behinderung bis zum Demenzbetroffenen. Besonders Klienten, die sich in unserer Welt der Worte schwertun wie Menschen mit Autismus, geistiger Behinderung oder Traumata, profitieren davon – alle pflegen gerne Tiere und merken dabei gar nicht, wie gut sie gefördert werden. So verbessert das Ausmisten und Einstreuen der Ställe die Grobmotorik der Kinder. Schubkarre fahren schult den Gleichgewichtssinn. Fellpflege verbessert die Feinmotorik. Bei Mathe mit Lamm lernen die Kinder rechnen und beim Herstellen von Tiermüsli lernen sie verschiedene Getreidearten kennen.

Noel führt begeistert die Ziegen an der Leine spazieren. Foto: © Bauernhof Göhring

Grundsätzlich gilt bei dieser Art der Förderung: Jeder tut, was er kann. Daher gelingen die meisten Erfolge ganz spielerisch. Wie auch bei Noel, dessen sprachliche Entwicklung deutlich verzögert ist. Da der Fünfjährige am Wortanfang Konsonanten oder gar ganze Silben weglässt, versteht seine Spontansprache oft keiner. Auch grobmotorisch hinkt der ansonsten so offene und fröhliche Junge seinen Altersgenossen hinterher. So klettert er unsicher und geht die Treppe immer noch im Nachstellschritt. Anfangs ist Noel auch auf dem Bauernhof schüchtern und erledigt Arbeitsaufgaben, die Bewegung verlangen, nur sehr ungern. Bereits nach wenigen Wochen ändert sich das jedoch. Er füttert und mistet die Tiere und bleibt über längere Zeit bei der Arbeit. Beim anschließenden Freispiel geht er gerne zu den ruhigen Schafen, verwöhnt sie mit leckerem Klee und erzählt ihnen von zu Hause. Noch lieber läuft er mit den Ziegen an der Leine spazieren. Dabei übt er nicht nur sprechen, sondern bewegt sich auch. Freiwillig. So trainiert er seine Fähigkeiten, ganz ohne Druck.

Jedem seine Tierart

Unsere Klienten profitieren von der Vielzahl unserer Tierarten. Auf dem Hof leben eine Kuh mit Kalb, drei Esel, zwei Minischweine, Schafe, Ziegen und Hühner. Jede Bauernhoftierart hat ihre Stärken, Talente und Fähigkeiten: Die intelligenten Ziegen eignen sich besonders für mutige, aktive Kinder. Der gelassene Esel wirkt auf Hyperaktive beruhigend. Die agilen Minischweine muntern müde Menschen auf. Ihre kommunikative Art bringt aber auch in sich gekehrte und sprachverzögerte Kinder zum Reden. Die mächtigen Kühe wirken aus Kinderperspektive erst einmal angsteinflößend. Aber es lohnt sich, ihnen zu vertrauen.

Auf dem Rücken von Paula kann sich Simone wunderbar entspannen. Foto: © Bauernhof Göhring

Das weiß auch Simone. Das zarte Mädchen leidet seit ihrer Geburt an der Glasknochenkrankheit. Bei zu viel Druck können die Knochen brechen. Während die meisten Tiere zu ungestüm und damit gefährlich für Simone sind, verhält sich die sensible Fleckviehkuh Paula instinktiv richtig. Wenn Simone auf ihrem breiten, runden Rücken ruht, steht Paula mucksmäuschenstill da. Ihre Atembewegungen und Wärme tun dem Mädchen gut. Immer wieder richtet sich die Sechsjährige selbständig auf und lächelt dabei. Auf dem Rücken ihres Lieblingstieres stärkt sie ihre Muskulatur – ohne Aufforderung und voller Freude.

Die tierischen Co-Therapeuten werden gut ausgebildet

Die meisten Kinder sind nicht auf eine Tierart fixiert, sondern suchen sich ihr Lieblingstier aus. Mit dem arbeiten wir dann intensiver. Aber natürlich eignet sich längst nicht jedes Tier für die soziale Arbeit. Damit Bauernhoftiere als tierische Co-Therapeuten eingesetzt werden können, müssen sie selbst einiges lernen und auf ihren Arbeitsalltag vorbereitet werden. Neben der intensiven Sozialisation mit Menschen muss sich der tierische Nachwuchs auch an Gegenstände gewöhnen, die in seinem späteren Arbeitsalltag vorkommen. Das können zum Beispiel Rollstühle, Krücken oder verschiedene Lagerungskissen sein. Diese Gewöhnung nennt man Habituation. Nur so machen Bauernhoftiere bei allen Aktivitäten gut mit und bleiben auch bei Geschrei und abrupten Bewegungen cool. Das sorgt für die maximal mögliche Sicherheit.

Allen unseren Bauernhoftieren gemeinsam ist, dass sie die Menschen annehmen, wie sie sind, aber trotzdem direkt und ehrlich Rückmeldung auf unser Verhalten geben. Tiere sind ohne Worte präsent, empathisch und authentisch. Wenn uns das Minischwein freudig grunzend begrüßt, freut es sich tatsächlich und grunzt keine Höflichkeitsfloskel. Wenn die Kinder die Kuh am Strick hinter sich herzerren wollen, bleibt sie stehen. Solange, bis die Kinder es besser machen.

Pflicht der Anbieter der tiergestützten Arbeit auf dem Bauernhof ist es, immer das Wohl von Klient und Tier im Blick zu behalten. Dazu müssen sie gut ausgebildet sein: eine pädagogische/therapeutische Ausbildung undlandwirtschaftliche Fachkenntnisse haben. Da kaum jemand beide Qualifikationen besitzt, ist auf den Bauernhöfen meist Teamwork gefragt.

Bauernhoftiere auf Hof Göhring
Minischwein Lillyfee lebt mit vielen anderen Tieren auf dem Bauernhof Göhring. Foto: © Bauernhof Göhring

Bisher gibt es zwar nur wenig wissenschaftliche Studien über die Arbeit mit Bauernhoftieren, aber erste Ergebnisse aus Norwegen zeigen, dass der Kontakt zu Bauernhoftieren vor allem bei Depressionen und Ängsten wirksam sein kann. In der Praxis trägt die tierische Förderung bereits Früchte: „Für die Kinderheilkunde im ambulanten und stationären Bereich sind Tiergestützte Interventionen auf dem Bauernhof eine wunderbare Möglichkeit, andere schon etablierte Therapieformen wie zum Beispiel die Ergotherapie zu bereichern“, weiß Dr. Renate Reul aus Erfahrung. Die in Pfullendorf praktizierende Hausärztin schickt häufig Kinder auf den Bauernhof Göhring. Allerdings kann sie für Schafpflege und Schweintraining kein Rezept schreiben. Denn bisher erkennen die Krankenkassen Heilbehandlungen mit Bauernhoftieren nicht an.

Andrea Göhring und Jutta Schneider Rapp

Andrea Göhring bewirtschaftet zusammen mit ihrem Mann Hubert einen Bioland-Betrieb in Oberschwaben. Sie ist Fachkraft für tiergestützte Intervention und fördert auf ihrem Hof seit zwölf Jahren Kinder mit Handicaps. www.bauernhof-goehring.de Ihre gesammelten Erfahrungen hat sie gemeinsam mit der Journalistin Jutta Schneider-Rapp im Buch „Bauernhoftiere bewegen Kinder“ beschrieben. Darin stehen die Stärken der einzelnen Tierarten sowie deren vielfältige Einsatzmöglichkeiten bei Kindern. Mit vielen berührenden Bildern und bewegenden Fallbeispielen ist es leicht lesbar.


Bauernhoftiere bewegen Kinder
Tiergestützte Therapie und Pädagogik
mit Schaf, Kuh und Co. – ganz praktisch

Andrea Göhring und Jutta Schneider-Rapp

Hardcover; 192 Seiten, 16 cm × 22 cm
24,90 Euro
ISBN: 978-3-89566-368-0

Dieser Artikel erschien im PROVIEH-Magazin 02-2021

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