Verstümmelungen ade!

18.05.2011: Die Kampagnenarbeit von PROVIEH trägt weitere Früchte. Die deutsche Agrarpolitik befindet sich in Zugzwang, weil das vorbeugende Amputieren der Ringelschwänze gegen geltendes EU-Recht verstößt. In Nordrhein-Westfalen darf nun seit Januar 2011 per Erlass das Schwanzkupieren bei Schweinen nicht länger routinemäßig vorgenommen werden. Schweinehalter müssen sich halbjährlich vom Tierarzt beraten lassen, wie Haltung, Lüftung oder Fütterung zu verbessern seien, um das Auftreten von Verhaltensstörungen wie Schwanzbeißen auf andere Weise zu vermeiden. Erst nach einer solchen Beratung gelte das vorsorgliche Kürzen der Schwänze im Einzelbetrieb als legal. Im Mai 2011 zog die Landesregierung in Thüringen mit einem ähnlichen Erlass nach.

Zur Erinnerung: PROVIEH hatte Ende 2009 eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht. Mit Hilfe seiner britische Partnerorganisation Compassion in World Farming (CIWF) konnte PROVIEH belegen, was in der Praxis ein offenes Geheimnis ist: In Deutschland wird den Schweinen kein ausreichendes Beschäftigungsmaterial angeboten und über 90 % der Ferkel werden ohne Betäubung die Schwänze und Eckzähne vorbeugend gekürzt. CIWF hatte diese eklatanten Missstände in den Ställen der wichtigsten Schweine produzierenden EU-Länder aufgedeckt und gefilmt.

Die EU-Kommission ging der Beschwerde von PROVIEH nach. Schon im März 2010 wurden Vertreter aus Brüssel in deutschen Landesministerien vorstellig. Denn ein flächendeckender Verstoß gegen die EU-Richtlinie über die Mindestanforderungen zum Schutz von Schweinen könnte zu Rückzahlungsforderungen von EU-Subventionen führen („Cross Compliance“ im Brüsseler Jargon), alleine in NRW von 30 Millionen Euro. Die deutsche Bundesregierung jedoch wiegelte zunächst ab. Sie versuchte, das Problem zu verleugnen und beschwichtigte in Briefen voller Unwahrheiten, mit welchen Forschungs- und Aufklärungsarbeiten sie aktiv an einer Lösung suchen würde. Schon wollte die EU das Beschwerdeverfahren zu den Akten legen. Doch die angesetzten Cross-Compliance-Kontrollen bestätigten die angemahnten Missstände und sollen 2011 verstärkt fortgeführt werden. PROVIEH legte zudem in Brüssel neue Beweise vor und erhob Klage wegen unzureichender Umsetzung der EU-Vorgaben in nationales Recht. So wurde die Schließung des Verfahrens verhindert und der Veränderungsdruck auf die deutschen Behörden bleibt weiter bestehen.

Vollzugsdefizite schließen

Die Bundesregierung muss EU-Vorgaben in deutsches Recht umsetzen. Die Agrarministerien der Länder aber müssen sicherstellen, dass in den Betrieben ihrer Schweinebauern das Verbot des Schwänzekürzens auch eingehalten wird. Wie zuvor schon bei der Ferkelkastration beginnt es den Beteiligten auf beiden Ebenen zu dämmern, dass sie Tierschutzprobleme nicht länger aussitzen können. So steigt die Zahl der Forschungsvorhaben an den landwirtschaftlichen Lehr- und Versuchsanstalten der Länder, die sich mit Fragestellungen zur Vorbeugung von Verhaltensstörungen wie Schwanzbeißen und Kannibalismus befassen. Und die Erlasse aus NRW und  Thüringen signalisieren deutlich, dass Schweineställe ohne ausreichendes Beschäftigungsmaterial zukünftig mit wachsendem behördlichem Druck rechnen müssen. Das Düsseldorfer Landwirtschaftsministerium sieht das Schwanzkupieren zurzeit zwar noch als wirkungsvollste Maßnahme gegen Schwanzbeißen an, macht aber zugleich unmissverständlich klar, es sei als Routineeingriff nicht tierschutzkonform. Die Vollzugsdefizite beginnen langsam, sich zu schließen.

Die deutschen Behörden haben einiges wieder gut zu machen. Über Jahrzehnte heizten sie mit ihrer Förderungs- und Genehmigungspraxis die einseitig auf billige Fleischerzeugung ausgerichtete industrielle Intensivtierhaltung an. Investitionen für eine tierschonendere Haltung, verhaltensgerecht strukturierte Ställe oder kleine Biobetriebe fielen bei ihnen als „nicht wachstumsorientiert bzw. nicht am Weltmarkt wettbewerbsfähig“ durch. Jetzt stehen viele Schweinebauern vor dem Problem, das Kunststück zu vollbringen, in strukturlosen Ställen auf kahlen Vollspaltenböden und mit beschäftigungsarmen Schnellmastfutter unversehrte Schweine ohne Verhaltensstörungen großzuziehen. Steigende Futterpreise und das Preisdumping der Discounter machen ihnen zusätzlich das Leben schwer. Auf öffentliche Förderung können sie beim Verzicht aufs Verstümmeln aber nicht hoffen. Für die Einhaltung von geltenden Gesetzen darf der Staat keine Prämien vergeben. Doch es gibt andere Möglichkeiten.

Praxisnahe Hilfe gefragt

Die Bauern müssen so schnell wie möglich auf praktische Empfehlungen aus der Forschung und von Betriebe, die bereits erfolgreich auf das Verstümmeln verzichten, zurückgreifen können. Das Landwirtschaftsministerium in NRW arbeitet mit Nachdruck an einem entsprechenden Leitfaden, der noch im Sommer 2011 vorgestellt werden soll. PROVIEH wird gemeinsam mit CIWF eine kostenlose Broschüre herausgeben, welche Beschäftigungsmaterialien für Schweine wirklich geeignet sind, um Verhaltensstörungen vorzubeugen. Darüber hinaus organisiert PROVIEH als Fachverband Betriebsbesuche mit konventionellen Schweinebauern auf Höfen, wo Schwanzbeißen und Kannibalismus erfolgreich vermieden werden. Im Gespräch miteinander lassen sich Erfahrungen zwischen Landwirten am schnellsten weiter geben.

Ein weiterer Baustein zum Vermeiden von Verhaltensstörungen bei Schweinen kündigt sich aus dem Europaparlament an. Die Verfütterung von hygienisch einwandfreien, potentiell auch für den menschlichen Verzehr geeigneten Rückständen aus der Geflügel- und Rinderschlachtung könnte für Schweine bald wieder zugelassen werden. Ein entsprechender Entschließungsentwurf aus dem Umweltausschuss des Europaparlaments wird voraussichtlich Anfang Juli 2011 im Plenum des Parlaments abgestimmt. „Es ist purer Luxus, dass wir Teile von Tieren, die wir nicht essen möchten, aber zum menschlichen Verzehr geeignet sind, einfach wegwerfen“, so die federführende SPD-Europaabgeordnete Dagmar Roth-Behrendt. Aus Nutztierschutzsicht ist dieser Schritt zu begrüßen. Schweine sind Allesfresser, die von Natur aus sehr gerne tierisches Eiweiß zu sich nehmen, vom Mäusenest über Frösche bis zum gefallenen Reh. Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen dem Blutdurst beim Auftreten von Kannibalismus unter Schweinen und einem Mangel an tierischen Eiweißen im Schweinefutter. Eine Verbesserung der Haltungsbedingungen ist für PROVIEH aber der erste und vorrangigste Schritt.

Handel in der Pflicht

Tierschutzrelevante Verbesserungen in der Schweinehaltung sind nicht umsonst zu haben. Der Handel muss seiner Verantwortung gerecht werden und darf die Kunden nicht länger mit extremen Billigangeboten von Fleisch ködern. Mit dem Slogan „So nicht!“ wehrt sich PROVIEH gegen Verstümmelungen beim Schwein. Aktive PROVIEH-Mitglieder haben die schwarzweiße Kampagnenkarte bereits in zahlreichen Filialen des Lebensmitteleinzelhandels verbreitet. PROVIEH setzt sich dafür ein, dass Fleisch von unversehrt großgezogenen Schweinen mit fairen Preisen honoriert wird. Trotzdem werben etliche Discounter in der Grillsaison weiter mit Schnäppchen und heizen den Preisdruck an. Das steht im krassen Gegensatz zur Werbung mit Tierschutz und Regionalität, die sich Ketten wie NETTO unverfroren auf die Fahnen schreiben. Das verärgert auch die Interessensgemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands e.V. (ISN). „Wir müssen prüfen, wer bei den Tiefpreisen vorprescht.“, sagt Dr. Torsten Staack, Geschäftsführer der ISN. Komme man nicht in Gesprächen weiter, scheue man sich nicht, die Ketten öffentlich anzuprangern.

PROVIEH begrüßt es, wenn der Kampagnendruck auf den Handel von Seiten der Tierhalter unterstützt wird. Denn nicht nur beim Schwänzekürzen, auch bei der Ebermast und bei der Gruppenhaltung von Sauen stehen etliche Veränderungen für die Bauern ins Haus. Die Zahl der ohne schmerzhafte Kastration aufgezogenen männlichen Schweine steigt weiter an. Etliche praxisorientierte Projekte arbeiten mit Nachdruck an Lösungen, Geruchsabweichungen am Schlachtband zu erkennen. Und auch bei der Fütterung, der Stressvermeidung und der Selektion auf geringere Geruchsbelastung werden Fortschritte gemacht. Ein kompletter Ausstieg aus der Ferkelkastration, wie ihn PROVIEH seit 2008 fordert, rückt unaufhaltsam näher.

Nur noch wenige Monate bleiben den Schweinebauern für die Einführung der Gruppenhaltung von tragenden Sauen. Sie soll EU-weit ab 2013 die derzeit noch übliche Haltung im Kastenstand ablösen. Dann dürfen Sauen nur noch zur Besamung und zum Abferkeln in engen Metallkäfigen fixiert werden. Das wird eine enorme Umstellung, wie PROVIEH bei einem Besuch mit konventionellen Schweinebauern auf dem Lehr- und Versuchsgut Futterkamp erfahren konnte. Gemeinsam mit CIWF wird der Fachverband eine Broschüre zur gesetzeskonformen Gruppenhaltung für Sauen herausgeben. Denn die Bauern hierzulande können von den Erfahrungen ihrer britischen Kollegen profitieren. England ist in Sachen Tierschutz bei Schweinen mehr als eine Rüssellänge voraus und die Gruppenhaltung dort seit Jahren selbstverständlich.

Sabine Ohm und Stefan Johnigk

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