Tiersprachen entschlüsselt – KI macht’s möglich
Von wegen „dumme Sau“ oder „dummes Huhn“!
Lange dachte man, dass das einzige „Gefühl“ der Tiere das Schmerzempfinden sei. Fischen sprach man bis weit in die 2000er Jahre selbst das ab, weil man ihr zentrales Nervensystem und dessen Schmerzübermittlungswege noch nicht verstanden hatte.
Seit vielen Jahren beschäftigt man sich mit der Analyse von Lautäußerungen von Milchkühen, Hühnern und auch bei Schweinen, um sie bei der Messung von Tierwohl und zur Produktionssteigerung einzusetzen. Bei Schweinen können laut Studien Menschen – nach einiger Übung – relativ verlässlich zwischen freudigen Lauten und ängstlichem Quieken unterscheiden. Doch mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) können inzwischen noch viel mehr Laute unterschieden und benannt werden.
Wenn Technikverliebtheit den Blick auf das Tier und seine Bedürfnisse verstellt, weil Abläufe automatisiert und die Mensch-Tier-Interaktion wegrationalisiert werden sollen, sieht PROVIEH dies oft kritisch. Aber die bahnbrechenden Forschungsarbeiten aus Dänemark und Japan begrüßen wir als bedeutenden Fortschritt mit viel Potenzial zur Verbesserung des Tierwohls.
Die Sprache der Schweine
Die Ergebnisse der größten je durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchung von Schweinelauten an der Universität Kopenhagen wurden erstmals im März 2022 im renommierten englischsprachigen Magazin „Nature Scientific Reports“ veröffentlicht und Anfang September 2024 in einer NDR-Dokumentation vorgestellt. Sie basieren auf Bildern und 7.414 Lautäußerungen von 411 verschiedenen Schweinen. Dabei wurden von der Geburt bis zur Schlachtung alle möglichen Lebensstufen, Situationen und Interaktionen abgebildet.
Mit Hilfe von aufwändigen Verfahren und sogenannten tiefen Lernalgorithmen wurden die Laute einzelnen Schweinen zugeordnet, mit ihrer Körpersprache und den Gesichtsausdrücken abgeglichen und interpretiert. Die Treffsicherheit bei der Unterscheidung zwischen dem Ausdruck positiver und negativer Gefühle dieser Anwendung von künstlicher Intelligenz liegt bei 92 Prozent.
Nicht nur Freud oder Leid
Die Vielfalt der Grunz-, Schnaub- und Quieklaute, mit denen Schweine kommunizieren, ist entschlüsselt. Die Studienergebnisse werfen ein ganz neues Licht auf die Vielschichtigkeit ihrer Gefühle. Die Untersuchungen ergaben, dass sich zum Beispiel Ferkel, die sich kennen und mögen, mit einem ganz bestimmten freudigen Begrüßungslaut begrüßen.
Insgesamt kristallisierten sich mindestens 19 unterschiedliche Grunzlaute heraus, die mit verschiedenen körperlichen und emotionalen Zuständen korrelierten. Bei Aufregung und Frustration sind die Laute hochfrequent, bei zufriedenem Säugen der Ferkel grunzt die Sau rhythmisch-niederfrequent, um den Säugerhythmus vorzugeben.
Stress macht Schweine krank
Die Studie zeigte eindrücklich: Schlechte Haltungsbedingungen erzeugen Stress, machen die Tiere unglücklich und krank. Konventionelle Haltungen schnitten im Vergleich schlechter ab als Bio- und Freilandhaltung. Auf der Weide gehaltene Tiere grunzten laut Studie mit Abstand am fröhlichsten und hatten die wenigsten Stresslaute – oh Wunder! Sie können ihre natürlichen, arttypischen Verhaltensweisen ja auch am besten ausleben!
Aber auch eine gute Mensch-Tierbeziehung hat sich klar als wichtiger Faktor für das Wohlbefinden der Tiere herauskristallisiert, ganz unabhängig von der Haltungsform. Auf Basis dieses Programms können künftig KI-gestützte Apps den Tierbetreuer:innen eine Übersetzungshilfe liefern.
Stockfische nicht stumm
Ein an dieser Studie der Schweinesprache beteiligter Forscher, J.H. Rasmussen, untersucht nun die Sprache verschiedener Stockfischschwärme. Stockfische verhalten sich laut Rasmussen ähnlich wie Amseln: Die Männchen etablieren am Meeresgrund ein Revier und verteidigen es mit Lautäußerungen. Sie locken Weibchen mit Lauten zur Paarung an, wie Singvögel.
Der Forscher will nun einem Problem vor der südnorwegischen Küste auf den Grund gehen: Dort leben zwei unterschiedliche Stockfischschwärme, wobei einer vom Aussterben bedroht ist. Sie paaren sich nicht untereinander. Nun soll Rasmussen herausfinden, ob sie sich einfach nicht verstehen, weil sie unterschiedliche Sprachen oder Dialekte sprechen
Hühnersprache in Japan mit KI entziffert
Eine etwas weniger treffsichere, aber immer noch beeindruckende Studie zur Kommunikation der Hühner legte ein Forscherteam der Universität von Tokio im Juni 2023 vor.
Die Ergebnisse der Untersuchung von Lautäußerungen von 80 verschiedenen Hühnern mit Hilfe einer KI-Technologie namens „DEAL (Deep Emotional Analysis Learning) zeigen, dass verschiedene emotionale Zustände der Hühner wie Glück, Hunger, Müdigkeit, Schmerz und Angst identifiziert werden konnten: Die Erkennung von Glück gelang im Durchschnitt mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent, bei Hunger mit 85 Prozent. Müdigkeit wurde mit einer Genauigkeit von 82 Prozent identifiziert, Schmerz mit 81 Prozent und Angst mit 83 Prozent.
Allerdings bestehen offenbar rassespezifische Unterschiede, die noch weiter erforscht werden müssen. Außerdem gehören zur Kommunikation nicht nur akustische Laute, sondern auch Körpersprache, die in dieser Studie – anders als bei der oben beschriebenen Erforschung der Schweinesprache – nicht berücksichtigt wurden.
In früheren Studien und Verhaltensbeobachtungen identifizierte man bereits mindestens 24 verschiedene Hühnerlaute.
Fazit
Durch die Entschlüsselung der Tiersprachen dank KI, zusammen mit der Verhaltensforschung, bekommen wir Menschen noch tiefere Einblicke in die teils komplexen kognitiven Fähigkeiten der Tiere. Diese wurden ihnen seit Descartes Einstufung als „Maschinen“ im 17 Jahrhundert abgesprochen. So konnte man sie jahrhundertelang „ruhigen Gewissens“ zum Nutzen des Menschen instrumentalisieren.
So lange Menschen noch Tiere halten und essen, sind sie aus ethischer Sicht mindestens dazu verpflichtet, ihnen ein artgerechtes Leben zu ermöglichen und für hohes Tierwohl zu sorgen. Zu einem guten Tierwohl-Monitoring gehören für PROVIEH – trotz aller technischen Fortschritte und Hilfestellungen – tierartübergreifend täglich zweimalige Kontrollgänge mit Tierbeobachtung dazu. KI bietet dennoch gute Entwicklungschancen, vor allem mit der Kombination von Laut- und Bilderfassung.
Sabine Ohm
Links:
https://www.spektrum.de/news/schlaue-huehner/1342910
16.10.2024