Die Emdener Gänse
Gänse gab es in Ostfriesland schon vor 2000 Jahren. Bereits damals waren die Vögel optimal an das raue Küstenklima angepasst. Der Legende nach war das Federkleid der Tiere früher grau und wurde erst durch die Paarung mit einem Schwan bei den Nachkommen rein weiß.
Deshalb und wegen ihrer Größe und Haltung heißt die Emdener Gans auch Schwanengans, aber natürlich stammt sie ursprünglich von der Graugans ab. Ausgangspunkt für ihre systematische Zucht ab dem 13. Jahrhundert war eine große Landgans, wie sie in der Gegend von Emden und Bremen üblich war. In frühen Rassebeschreibungen der Emdener Gans ist die Rede von einer schwanenähnlichen Figur, einem auffällig langen Schwanenhals, gelbrotem Schnabel, blauen Augen, blendend weißem Gefieder und orangeroten Füßen. In ihrer ganzen Federpracht war die Gans eine Zierde für jedes Gewässer. Zudem besaß sie eine erstaunliche Flugkraft. Sie überzeugte auch mit ihrer hohen Fruchtbarkeit: Schon im ersten Jahr konnte sie acht bis zehn Eier legen. In der Emdener Gegend jedoch verwendete man nur Eier von ein- oder mehrjährigen Gänsen zum Brüten, da sie ihre volle Legeleistung erst im dritten Lebensjahr entfalteten.
Damals waren überall große Gänseherden an den Ufern der Ems anzutreffen. Über die Küsten brachen zwar so manche Sturmfluten herein, die die Bestände empfindlich reduzierten, zum Beispiel im Jahre 1863. Doch immer überlebten einige Tiere, mit denen weiter gezüchtet wurde bis in die Mitte des 19. Jahrhundert. Dann, im Jahre 1842, traten neue Gesetze in Kraft, die die „Verkoppelungen“ von Ländereien erwirkten. Die Nutzungsrechte von Weide- und Ackerland wurden neu aufgeteilt, und dies offenbar zum Nachteil der Emdener Gänse, denn ihre Zahl verminderte sich in der Folgezeit rasant.
Vor allem im Ausland bewunderte man die massige und dennoch elegante Erscheinung der Emdener Gans. Die Nachfrage war bald so groß, dass Emdener Gänse exportiert wurden: Im Jahre 1882 traten etliche Gänse die Reise nach England und USA an, wo sie als Rasse „Emden Goose“ bekannt wurden. In Böhmen und Ungarn kreuzte man die Tiere in die dort heimischen Rassen ein.
Die Einheitlichkeit des deutschen Emdener Typs verdankte die Gans einem passionierten Züchter in Niedersachsen, der den Grundstein für die nachfolgende Zucht legte, die im Jahr 1939 ihren Höhepunkt fand. Auch in Deutschland erfreute sich die Rasse zunehmender Beliebtheit, denn es fanden sich mehr und mehr interessierte Züchter. Doch der Zweite Weltkrieg versetzte der Zuchteinen empfindlichen Rückschlag: Nach Kriegsende gab es fast keine Tiere mehr. Die Population hatte sich ihr Erscheinungsbild gegenüber vor dem Krieg stark verändert. Die alte Körpergröße war zwar bald erreicht. Erst 1971 wurden 30 Emdener Gänse in „Spitzen-Qualität“ in Hinblick auf ihr Körpergewicht ausgestellt.
In den folgenden Jahren veränderten sich die Strukturen auf dem Lande. Ein bis heute andauerndes Höfesterben begann. Die Tiere verschwanden von der Weide in die Ställe, denn freilaufendes Geflügel zu versorgen bedeutete ein Mehr an Aufwand und Kosten. Auch die Emdener Gänse blieben von dieser Entwicklung nicht verschont: Ihr Bestand schrumpfte zusehends. Nur einigen wenigen engagierten Gänse-Liebhabern ist es zu verdanken, dass die Rasse noch heute existiert, wenn auch nicht mehr im ursprünglichen Emdener Typ.
Die Emdener Gans eignet sich vorzüglich als Mastgans für die Weidehaltung. Mit nahezu 12 Kilogramm Schlachtgewicht ist sie nicht nur die schwerste, sondern auch die größte Gans in Deutschland: Allein der Hals eines Ganters kann einen Meter lang werden. Auch die weiblichen Tiere sind auffällig groß. Das heutige Zuchtziel ist eine große weiße Gans mit hoher Mastleistung, einem schwanenartig langen Hals mit gestrecktem Kopf und einem massigen, breiten Körper mit einer nach hinten geschlossenener Bauchwamme. Die Legeleistung variiert zwischen 21 und 65 Eiern. Vereinzelt sind es auch schon mal 80 Eier im Jahr. Das Eigewicht liegt zwischen 165 und 170 Gramm. Leider ist der heute weniger stark ausgeprägt als früher. Den Grund dafür sehen in der jahrzehntelangen praktizierten Linienzucht und darin, dass hohe Legeleistungen nur dann möglich sind, wenn die Gans nicht brütet. Deshalb werden Emdener Gänse zwecks genetischer Auffrischung gerne in Hybridrassen eingekreuzt. Am besten für die Zucht geeignet sind zwei- oder mehrjährige Tiere. Bei der Aufzucht der Gänseküken zeigen die Muttertiere besondere Fürsorge.
Auf der Roten Liste der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen (GEH) wird die Emdener Gans inzwischen als „stark gefährdet“ eingestuft. So gab es 2016 gerade mal noch 123 Ganter und 238 Gänse.
Susanne Aigner