Die Thüringer Waldziege

Die Thüringer Waldziege © PROVIEH

Schön ist sie – keine Frage! Das ist jedoch nicht der einzige Grund für die wachsende Beliebtheit der Thüringer Waldziege. Immerhin gehört sie zu den Nutztieren, deren Haltung meist von wirtschaftlichen Überlegungen geprägt ist. Selbst bei Hobbyhaltern ist der Nutzungsaspekt bedeutend, z.B. beim Wunsch nach Selbstversorgung mit Ziegenmilch und -fleisch oder einer besseren Verträglichkeit der Ziegenmilch für Allergiker. Also: Nützlich ist sie auch. Und sie ist die einzige eigenständig gezüchtete Ziegenrasse Deutschlands. Trotzdem gehört sie zu den gefährdeten Rassen. Wie konnte das bei ihren Vorzügen passieren?
Aufschluss hierüber geben die Gründe, warum Menschen Ziegen halten. Ziegen waren in der Vergangenheit meist mit der Armut ihrer Halter verknüpft. „Richtige“ Bauern hielten Kühe zur Milcherzeugung, Ziegenhalter waren Arbeiter oder gehörten zur armen Landbevölkerung. Noch heute kennt man die Bezeichnung der Ziege als „Kuh des armen Mannes“ oder „Eisenbahnerkuh“.

Die anspruchslosen Ziegen wurden meist in Kleinstbeständen von ein bis drei Tieren zur Selbstversorgung der Familien gehalten. Mit einfachen Mitteln, oftmals in unzulänglichen Stallungen, gehütet an Wegrändern und Bahndämmen und mit minderwertigem Futter gefüttert, lieferten sie Milch und Fleisch zur Gesunderhaltung und Eiweißversorgung.

Das Auf und Ab der Ziegenhaltung war immer mit Zeiten wechselnden Wohlstands verknüpft. So verwundert es nicht, dass ein extremer Einbruch der Ziegenbestände nach Ende des 2. Weltkrieges, mit Beginn des „Wirtschaftswunders“, einsetzte. Die Ziegenbestände erreichten in den 1980er Jahren ihren Tiefpunkt. Dann setzte ein Aufschwung der Ziegenhaltung ein, der erstmals andere Gründe als die Armut hatte. Ziegenprodukte erlangten nun endlich ihre verdiente Wertschätzung wieder, andere Länder wie Frankreich machten es uns vor. Das Image der Produkte wandelte sich von einem vorurteilsbehafteten Produkt „mit Bockgeschmack“ hin zur Delikatesse.

Entwicklung der Thüringer Waldziege

Auch die Thüringer Waldziege war diesen Entwicklungen unterworfen. Ende des 19. Jahrhunderts kreuzte man in allen Regionen Deutschlands Schweizer Rassen in die so genannten Landschläge ein. In Thüringen nutzte man zur Veredlung Schweizer Toggenburger Ziegen. Es entstand eine Rasse, die sich mit ihrer schokoladenbraunen Färbung und der typischen weißen Gesichtsmaske leicht von den anderen rehbraunen Schlägen absetzte und die sich aufgrund der züchterischen Erfolge schnell in ganz Thüringen durchsetzte. Der Name „Thüringer Toggenburger“ wurde 1935 in „Thüringer Waldziege“ umbenannt, nachdem sie sich zu einer eigenständigen Rasse entwickelt hatte.

Waldziege auf einem Grashaufen
Die Thüringer Waldziege © PROVIEH

Nach hohen Ziegenbeständen in Kriegszeiten kam der erwähnte Einbruch. Die Bestandszahlen gingen auf knapp 100 Tiere in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zurück, die Anzahl der Bocklinien reduzierte sich stark und die Inzuchtverhältnisse stiegen bedrohlich. 1988 wurden aus diesem Grund einige Schweizer Toggenburger Ziegen gezielt in die Zucht eingebracht, die zum Entstehen zweier neuer Blutlinien führten. Nach der Grenzöffnung erfuhr der Bestand einen weiteren Einbruch, die Herdbuchführung wurde unterbrochen und Teile der Zuchtunterlagen gingen verloren. Viele Züchter gaben auf und verkauften ihre Tiere, zum Teil auch in die westlichen Bundesländer.

Eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Nutztierrassen e.V. (GEH) ergab 1993 nur noch 146 Thüringer Waldziegen bei 41 Züchtern in mittlerweile sieben Bundesländern. Mithilfe alter Zuchtunterlagen (Herdbuchkarteien, Ausstellungskataloge) konnten die Abstammungsdaten weitgehend gesichert werden. Mit der Neugründung des Zuchtverbandes in Thüringen Ende 1992 wurden die Thüringer Züchter bald wieder betreut und das Herdbuch neu eingerichtet. 1993 nahm die GEH die Thüringer Waldziege auf die Rote Liste der gefährdeten Haustierrassen auf und kürte sie zur „Rasse des Jahres“.


Fotos: © PROVIEH