FAQs – Mindeststandard Kälberaufzucht
Was steckt hinter dem Mindeststandard der kuhgebundenen Kälberaufzucht?
Die kuhgebundene Kälberhaltung gewinnt immer mehr an Bedeutung. So steigt sowohl die Zahl der Pionierbetriebe, die diese artgemäße Form der Aufzucht praktizieren, als auch das Interesse der Verbraucher:innen. Um möglichst einheitliche Standards für die kuhgebundene Kälberaufzucht durchzusetzen, haben sich 2021 verschiedene Initiativen zusammengeschlossen und die Interessengemeinschaft kuhgebundene Kälberaufzucht (IG Kalb & Kuh) gegründet und gemeinsam mit Forschung und Tierschutz einen Mindeststandard für kuhgebundene Kälberaufzucht entwickelt. Ausgehend von den Grundbedürfnissen von Kuh und Kalb wurden 13 Kriterien festgelegt, um eine möglichst artgemäße Kälberaufzucht sicherzustellen. Die Einhaltung der Kriterien wird auf zertifizierten Höfen im Rahmen der Bio-Kontrolle jährlich überprüft. Im Folgenden werden die einzelnen Kriterien des Standards vorgestellt und erläutert.
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↓ 1. Der Milchviehbetrieb muss gemäß den Vorgaben eines deutschen Bio-Verbandes zertifiziert sein.
Betriebe, die sich zertifizieren möchten, müssen neben der EU-Bio-Zertifizierung bereits von einem Bio-Anbauverband zertifiziert sein. In Deutschland gibt es 10 verschiedene Anbauverbände und Standards. Die bekanntesten sind Demeter, Bioland und Naturland. Ihre Richtlinien gehen über die Anforderungen der EU-Bio-Zertifizierung hinaus.1 Hintergrund dieser Vorgabe ist, einen von den Kriterien der Kälberaufzucht unabhängigen Tierwohl-Mindeststandard garantieren zu können. Demnach gelten sowohl für Milchkühe als auch für Kälber Mindestanforderungen an die Haltung, Züchtung und die Gesundheitskontrolle. Diese müssten ohne diese Mindestvoraussetzung eigenständig eingeführt werden und würden den Kriterienkatalog sprengen.
1 Ökolandbau.de (o.D.). Anbauverbände. Abgerufen am 28.07.2023 unter Anbauverbände (oekolandbau.de)
↓ 2. Bei der jährlichen Bio-Kontrolle müssen darüber hinaus Tierwohlkontrollen mit tierbezogenen Parametern (entsprechend AG-Tierwohl- oder demeter-Tierwohlcheck) durchgeführt werden.
Einmal jährlich wird das Tierwohl auf den Betrieben kontrolliert. Hierbei werden der Ernährungs- und Pflegezustand, die Tiergesundheit und die Freiheit von Verletzungen und Technopathien (Verletzungen durch die Stalleinrichtung) kontrolliert. Auch der Zustand von Haltungsumwelt und Fütterung, Tierverlusten und Schlachtbefunden wird überprüft. Für jedes Kriterium gibt es Grenzwerte. Werden diese überschritten, werden Maßnahmen wie zum Beispiel Beratung, Änderungsvorgaben und Nachkontrollen eingeleitet. Falls trotzdem keine Verbesserungen herbeigeführt werden, folgen Sanktionen. Diese können bis hin zur Kündigung des Betriebes reichen.2, 3
2 AG-Tierwohl (o.D). Tierwohl-Kontrollkonzept der AG Tierwohl der Ökoverbände. Abgerufen am 27.07.2023 unter Schulungsplattform der AG Tierwohl (ag-tierwohl.de) /
3 Lorenz (2014). Kontrolliertes Tierwohl. Abgerufen am 27.07.2023 unter https://www.lebendigeerde.de/index.php?id=berichte_144
↓ 3. Das Kalb wurde von einer Milchkuh auf einem Milchviehbetrieb geboren.
Bei der Zertifizierung handelt es sich um eine Zertifizierung für die Aufzucht von Kälbern aus Milchviehbetrieben. Daher müssen die Kälber auch auf diesen geboren sein. Im Vergleich dazu können Kälber auch von sogenannten Mutterkühen geboren sein. Diese dienen nicht der Milcherzeugung, sondern bekommen die Kälber gezielt zur Fleischerzeugung. Die Kälberaufzucht ist dann auch muttergebunden, hat aber keinen Zusammenhang mit der Milchproduktion.
↓ 4. Der Mindestzeitraum der kuhgebundenen Aufzucht darf – von Geburt an – 90 Tage auf dem Geburtsbetrieb oder einem Ammenkuhbetrieb nicht unterschreiten.
In der Bio-Milchviehhaltung ist eine Vollmilchversorgung der Kälber für 90 Tage vorgeschrieben.4 Denn Kälber werden mit einem unausgereiften Magensystem geboren. Anfangs können Sie nur Milch über den Labmagen verdauen. Der Pansen, der für die Verdauung von Raufutter zuständig ist, muss sich erst durch die regelmäßige Aufnahme von Raufutter entwickeln. Daher knabbern die Kälber Anfangs nur an Heu und Gras. Erst nach rund 90 Tagen sind die Kälber dann in der Lage, ihren Energiebedarf komplett aus dem Raufutter zu decken.5
4 (EU) 2018/848 Art. 14 Abs. 3 und Anhang II Teil II, 1.4.1 g und Durchführungsverordnung (EU) 2020/464 der Kommission vom 26. März 2020
5 Methling, W., & Unshelm, J. (Eds.). (2002). Umwelt-und tiergerechte Haltung von Nutz-, Heim-undBegleittieren. Georg Thieme Verlag.
↓ 5. Maximal 15 Prozent der Kälber dürfen als Zucht- oder Masttiere bereits nach 4 Wochen den Betrieb verlassen. Der übernehmende Betrieb muss sich dazu verpflichten, die Tiere bis zur Schlachtung oder zur Zuchtreife zu behalten (Selbstverpflichtung des übernehmenden Betriebes, Betrieb nimmt nicht am Kontrollverfahren teil, Produkte können nicht nach diesen Kriterien zertifiziert werden).
Nicht alle Betriebe haben den Platz, um alle Kälber selbst aufzuziehen. Diese Regel gibt den Betrieben die Möglichkeit, auch mal Kälber zur Zucht oder zur Mast zu verkaufen. So können sie flexibel auf Platzmangel reagieren und auch züchterisch tätig sein.
↓ 6. Alle Kälber eines Milchviehbetriebes müssen nach diesen Kriterien aufgezogen werden (kann ein Kalb aus gesundheitlichen Gründen nicht am Euter trinken, dürfen für den Bedarfszeitraum alternative Methoden zum Einsatz kommen).
Natürlich sollen auch kranke Kälber angemessen versorgt werden. Sind die Kälber etwa zu schwach, um am Euter zu trinken oder brauchen eine besondere Versorgung (etwa Elektrolyte bei Durchfall), dann müssen sie natürlich mit der Flasche oder Eimer versorgt werden. Genauso ist es, wenn die Kuh krank ist und beispielsweise durch eine Euterentzündung das Kalb nicht trinken lässt oder nicht aufstehen kann. Auch dann sollte das Kalb natürlich übergangsweise per Eimer Milch bekommen können.
↓ 7. Kuh und Kalb muss nach der Geburt ausreichend Zeit zusammen eingeräumt werden, damit eine ausreichende Aufnahme der Biestmilch gewährleistet und eine Gewöhnung aneinander möglich ist.
Kälber kommen, anders als Menschen, ohne Abwehrstoffe gegen Infektionen zur Welt. Erst durch die Erstmilch, die sogenannte Kolostralmilch, bekommt das Kalb eine passive Immunität durch in der Milch enthaltene Antikörper von seiner Mutter. Diese Antikörper sind umgebungsspezifisch und schützen das Kalb vor Erregern aus der Stallumgebung der Kuh.6 Damit das Kalb eine ausreichende Menge dieser besonderen Milch zu sich nimmt, ist dieses Kriterium essenziell.
Darüber hinaus ist der enge Kontakt von Kuh und Kalb direkt nach der Geburt wichtig, damit eine Prägung stattfinden kann. Nach drei Tagen erkennen sich Kuh und Kalb durch Geruch und Rufen. So finden sie sich in der Gruppe mit anderen Tieren gut wieder, auch wenn sie zeitweise voneinander getrennt wurden (etwa, wenn sie nicht ganztägig zusammen sind oder zu den Melkzeiten getrennt werden).7
6 Spengler Neff, A., Schneider, C., Ivemeyer, S., Bigler, M., Bindel, B., Haeni, R., … & Lipka, M. (2017). Mutter-und ammengebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung. Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL).
7 Spengler Neff, A., Schneider, C., Ivemeyer, S., Bigler, M., Bindel, B., Haeni, R., … & Lipka, M. (2017). Mutter-und ammengebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung. Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL).
↓ 8. Die Kälber müssen von den eigenen Müttern (muttergebunden) oder von Ammenkühen (ammengebunden) gesäugt werden. Zur Ammenkuhhaltung können Kälber ab der 3. Lebenswoche in einen Ammenkuhbetrieb wechseln, der auch am Kontrollverfahren teilnimmt und nur für diese zugekauften Kälber das Fleisch als diesem Standard entsprechend deklarieren darf. Der abgebende Milchviehbetrieb darf in diesem Fall weiterhin die Milch als diesen Kriterien entsprechend kennzeichnen.
Kuhgebundene Kälberaufzucht bedeutet, dass die Kälber entweder von der eigenen Mutter oder einer Amme aufgezogen werden. Eine Amme ist eine Kuh, die mehrere Kälber versorgt, die nicht ihre eigenen sind. Meist wird sie zusätzlich nicht mehr gemolken und darf den ganzen Tag mit den Kälbern verbringen. Für welches System ein Betrieb sich entscheidet, hängt daher stark von den baulichen Gegebenheiten, der zur Verfügung stehenden Arbeitskraft und den persönlichen Vorlieben selbst ab.8 Lesen Sie hierzu auch die FAQs – Allgemeine Fragen
8 Barth, K., & Miesorski, M. (2022). Kuhgebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung: Leitfaden für die Praxis.
↓ 9. Das Kalb soll immer die Möglichkeit haben, an einer Kuh zu saugen. Wenn dies aus betrieblichen und-/oder baulichen Gründen nicht möglich ist, muss es mindestens zweimal täglich aus dem Euter einer Kuh trinken können und die Möglichkeit zu angemessenem Sozialkontakt haben.
Kälber trinken unter natürlichen Bedingungen mehrmals täglich am Euter. Wenn es aus betrieblichen Gründen nicht anders möglich ist, sollten die Kälber mindestens zweimal täglich mit Milch versorgt werden, ansonsten gerne öfter. Je öfter die Kälber kleinere Mahlzeiten zu sich nehmen, desto besser können sie die Milch verdauen.
Neben dem Säugen ist auch der Sozialkontakt von Bedeutung. So beleckt eine Kuh ihr Kalb regelmäßig. Hierdurch wird die Durchblutung gefördert und die Kuh nimmt oberflächlich vorhandene Keime vom Fell des Kalbes auf und bildet dagegen Antikörper, die sie über die Milch an das Kalb weitergibt.
↓ 10. Die Kälber müssen mindestens so lange bei der Kuh bleiben, bis der Saugvorgang abgeschlossen wurde.
Dieses Kriterium soll sicherstellen, dass sich die Kälber auch tatsächlich satttrinken können. Die Kälber haben ein natürliches Saugbedürfnis, welches durch das Nuckeln am Euter befriedigt wird. Haben die Kälber dafür nicht ausreichend Zeit, besaugen sie stattdessen die Stallinfrastruktur (Stangen, …) oder ihre Artgenossen (Ohren, Nabel, …). Das führt zu Stress und gegenseitigen Verletzungen an den Tieren, zum Beispiel zu Nabelentzündungen.9
9 Spengler Neff, A., Schneider, C., Ivemeyer, S., Bigler, M., Bindel, B., Haeni, R., … & Lipka, M. (2017). Mutter-und ammengebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung. Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL).
↓ 11. Die Kälber müssen sich in einen geschützten Bereich zurückziehen können, außer wenn die Tiere auf der Weide gehalten werden.
In der Natur schließt sich das Kalb ab einem Alter von zwei Wochen einer Gruppe von jungen Kälbern an, die sich etwas abseits der Milchkuherde hält. Während die Mütter weiden, ruhen, spielen oder tollen die Kälber gemeinsam. Um diesem Bedürfnis nachzukommen, sollte den Kälbern ein geschützter Bereich zur Verfügung gestellt werden.10
10 ebd.: Spengler Neff, A., Schneider, C., Ivemeyer, S., Bigler, M., Bindel, B., Haeni, R., … & Lipka, M. (2017). Mutter-und ammengebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung. Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL).
↓ 12. Das Abtränken und die Trennung von Kuh und Kalb darf nicht abrupt, sondern muss schonend für Kalb und Kuh durchgeführt werden.
Schon wenige Tage nach der Geburt haben Kuh und Kalb eine enge Bindung zueinander aufgebaut. Damit die Tiere einen möglichst geringen Trennungsschmerz erfahren, sollten sie daher am Ende der Aufzuchtphase sehr schonend voneinander getrennt werden. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ähnlich wie in der Natur können die gemeinsamen Kontaktzeiten und Tränkephasen graduell reduziert werden. Neben der zeitlichen Einschränkung gibt es noch die Möglichkeit, die Kälber in der späteren Aufzuchtphase von ihren Müttern zu trennen und fortan an Ammen mit Milch zu versorgen. Auch physische Barrieren können eingesetzt werden, um die Kälber am Trinken zu hindern, aber noch Berührungs- und Sichtkontakt zur Kuh ermöglichen. Wichtig ist, dass die Trennung von der Kuh und das Absetzen von der Milch nicht gleichzeitig vollzogen werden, damit Kuh und Kalb möglichst wenig Stress empfinden. Daher ist es am besten, wenn die verschiedenen Absetzmethoden miteinander kombiniert werden.11
Nach der Geburt trinkt das Kalb hauptsächlich Milch und verbringt viel Zeit mit der Mutter. Mit zunehmendem Alter braucht das Kalb immer weniger Milch und frisst stattdessen mehr Gras. Außerdem verbringt es mehr Zeit mit anderen Kälbern und kommt nur noch gelegentlich zu seiner Mutter, um zu trinken. So beginnt die langsame Entwöhnung. Dieses Kriterium versucht, diesen Prozess nachzuahmen.12
11 Schmidberger, R., & Ivemeyer, S. (2021). Trennen und Absetzen in der kuhgebundenen Kälberaufzucht. Biotopp, (5/2021), 33-35.
12 Spengler Neff, A., Schneider, C., Ivemeyer, S., Bigler, M., Bindel, B., Haeni, R., … & Lipka, M. (2017). Mutter-und ammengebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung. Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL).
↓ 13. Da die kuhgebundene Kälberaufzucht an das Betriebsmanagement gewisse Herausforderungen stellt und sich der Kalb- und Rindfleischmarkt für die Bio-Milchviehkälber erst langsam zu entwickeln beginnt, gilt folgende Übergangsregelung: Neubetriebe können eine Übergangszeit von bis zu 24 Monaten in Anspruch nehmen. In der Übergangszeit dürfen max. 50 Prozent aller auf dem Milchviehbetrieb geborenen Kälber nach vier Wochen kuhgebundener Aufzucht den Milchvieh- oder Ammenkuhbetrieb verlassen. Es dürfen nur Tiere mit dem Hinweis auf diese Kriterien vermarktet werden, die volle 90 Tage ab der Geburt nach obigen Kriterien aufgezogen worden sind. Der Nachweis ist durch kontrollierbare Dokumentation zu erbringen. Die gesamte Milch des Betriebes darf während der Übergangszeit NICHT mit dem Hinweis auf diese Kriterien vermarktet werden.
Betriebe brauchen die Möglichkeit zum Einstieg in die kuhgebundene Aufzucht. Um transparent zu bleiben, können allerdings nur die Produkte zertifiziert werden, die kuhgebunden sind.
Um Betrieben den Einstieg in die kuhgebundene Kälberaufzucht zu erleichtern, wird bei Bedarf eine Übergangszeit gewährt. Fleischprodukte von Kälbern, die bereits vollständig kuhgebundene aufgezogen wurden, können bereits in dieser Phase als zertifiziert gekennzeichnet werden. Um das Qualitätsversprechen der kuhgebundenen Kälberaufzucht einzuhalten, kann die Kennzeichnung der Milch allerdings erst erfolgen, wenn die Übergangszeit abgeschlossen ist und die Kriterien vollständig umgesetzt werden.
↓ 14. Kontrollen und Zertifizierung
Bio-Betriebe, die diese Mindeststandards erfüllen, können sich von der IG Kalb & Kuh zertifizieren lassen. Die Einhaltung der Kriterien wird im Rahmen der jährlichen Bio-Kontrolle überprüft. Nach erfolgreicher Kontrolle können sie sowohl ihre Milch- als auch Fleischprodukte mit dem Schriftzug “Zertifiziert nach den Kriterien für kuhgebundene Kälberaufzucht (ig-kalbundkuh.de)” kennzeichnen.