“WertKalb”
Wertschöpfung durch Wertschätzung der Kälber aus ökologischer Milchproduktion
Die Milch- und Rindfleischproduktion sind zwei Betriebszweige, die heute zucht- und haltungsbedingt voneinander entkoppelt sind und nur noch selten zusammen auf einem Betrieb stattfinden. Diese Spezialisierung ist im Rahmen der einseitigen Milchproduktion verbunden mit der Erzeugung „überzähliger“ Kälber. Um Milch geben zu können, muss die Kuh regelmäßig ein Kalb gebären. Sowohl die männlichen Kälber als auch die überschüssigen weiblichen Kälber von spezialisierten Milchrassen eignen sich nicht zur Mast. Diese Kälber haben daher weder einen betriebswirtschaftlichen Nutzen noch erfahren sie eine angemessene ethische Wertschätzung und sind aus Tierschutzsicht besonders kritischen Aspekten ausgesetzt: Beispielsweise die unmittelbare Trennung von Kuh und Kalb nach der Geburt, sodann die zunächst isolierte und häufig defizitäre Aufzucht der Kälber verbunden mit einer rationierten, nicht artgemäßen Eimertränke und der unsägliche Transport jener Kälber, die nicht zur Nachzucht der eigenen Milchviehherde benötigt werden. Vor allem diese überwiegend männlichen Kälber, die im Säuglingsalter von zwei bis fünf Wochen über Viehhändler und Kälbermärkte über weite Strecken bis in ferne Länder transportiert werden und mit Billigpreisen die regionalen Wertschöpfungsketten verlassen, sind die sogenannten „überschüssigen“ Kälber.
Dieses System betrifft die konventionelle und ökologische Milchproduktion und wird zunehmend von Tierschützern, Wissenschaftlern, Verbrauchern und Landwirten kritisiert. Durch die hohe und weiterhin steigende Nachfrage und Erzeugung von Bio-Milch(-produkten) bei vergleichsweise geringer Nachfrage nach Bio-Kalbs- und Bio-Rindfleisch verschärft sich das Problem der überzähligen, wertarmen „Problemkälber”. Denn mehr Bio-Milch bedeutet, dass mehr Kälber geboren werden, für die es derzeit keinen Markt gibt. Die große Mehrheit der Bio-Milch-Kälber muss vor diesem Hintergrund derzeit in den konventionellen Sektor verkauft werden. Dies ist nicht im Sinne der ethischen Prinzipien und Werte des ökologischen Landbaus. Aufgrund der unter ökologischen Bedingungen höheren Aufzuchtkosten durch die vorgeschriebene Fütterung von kostbarer Bio-Milch, sind die meisten Bio-Betriebe bestrebt, die überzähligen Kälber so früh als möglich zu verkaufen. Auch Bio-Landwirte selbst sehen dies und die langen Transportstrecken bis ins Ausland als großes Problem, können aber aufgrund der Marktsituation, des ökonomischen Drucks und der schlichtweg fehlenden regionalen Abnehmer kaum alleine etwas daran ändern. Um an diesen gewachsenen Strukturen etwas zu ändern, bedarf es Aufklärung, vor allem aber Handeln auf allen Ebenen und von allen Akteuren in der Wertschöpfungskette, von den Landwirten über die Märkte bis hin zum Verbraucher.
Das WertKalb-Projekt untersucht Lösungsstrategien
Das WertKalb-Projekt ist die wissenschaftliche Koordinierungsstelle zwischen den vielfältigen Problembereichen und Lösungsstrategien (siehe Abbildung 1). Viele der dargestellten ursächlichen und strukturellen Probleme müssen zunächst greifbar gemacht werden, um Entwicklungsstrategien zur Verbesserung fundiert zu versieren – hierfür wurde das WertKalb-Projekt geschaffen.
Ein großes Problem liegt in der Trennung der Produktion, aber auch im Konsummuster von Milch und Fleisch begründet. Das Kalb gehört zur Kuh wie das Fleisch zur Milch: Denn ohne Kalb, keine Milch. Diese Herausforderung, Milch und Fleisch wieder zu einen, betrifft vor allem den Bio-Bereich maßgeblich. Um dem Problem der regionalen Überproduktion von Fleisch und der Wertlosigkeit der zu mästenden Milch-Kälber entgegenzuwirken, muss die Nachfrage nach regionalem Fleisch aus artgerechter Haltung steigen oder es müssen weniger Kälber geboren werden. Nötig wären außerdem politische Maßnahmen, wie die Förderung der regionalen und artgerechten Kälberaufzucht oder ein Verbot von Langstreckentransporten für noch nicht von der Milch entwöhnte junge Kälber. So könnte man den Tieren die leidvollen Langstreckentransporte in die Großmastanlagen im Ausland ersparen. Eine große Herausforderung liegt also darin, für Rind- und Kalbfleisch genau so hohe Tierwohl-Standards am Markt umzusetzen wie für Milchprodukte. Denn Konsumenten können so mit ihren Kaufentscheidungen den artgemäßen Umgang mit Rindern anstoßen. Dafür müssen Verbrauchern tierethisch überlegene Produkte angeboten werden und der Fleischkonsument muss den entsprechenden höheren und fairen Preis dafür auch bezahlen. Um also den Dreh- und Angelpunkt der Kaufentscheidungen von Konsumenten im Milch- aber auch Fleischkonsum nachzuvollziehen und gezielt Anreize zur Inwertsetzung von Kälbern setzen zu können, forscht hier das WertKalb-Projekt umfassend.
Kälber im Mittelpunkt der Milch- und Fleischvermarktung
Ein besonders aussichtsreiches Feld zur höheren Wertschätzung von Kälbern sind Bio-Systeme, die das Kalb in die Vermarktung miteinbeziehen: Hier ist die kuhgebundene Kälberaufzucht und auch die konkrete Vermarktung von Bruderkälbern von großem Potenzial.
Vor allem in Baden-Württemberg wird die kuhgebundene Kälberaufzucht in den letzten Jahren von einer zunehmenden Anzahl von Bio-Landwirten praktiziert. Pioniersarbeit haben die Bruderkalb-Initiative und die Erzeugergemeinschaft Demeter HeuMilchbauern geleistet. Fast 100 Milchviehbetriebe, die diesen beiden Organisationen angeschlossenen sind, ziehen ihre weiblichen und männlichen Kälber für mindestens drei Monate an der Mutterkuh oder Ammenkuh auf. Die neu gegründete Interessengemeinschaft kuhgebundene Kälberaufzucht (www.ig-kalbundkuh.de) hat dafür gemeinsam mit den Bio-Verbänden Mindeststandards entwickelt, um diese natürliche Aufzuchtform kontrollieren, auf Produkten auszeichnen und im Markt etablieren zu können. Das WertKalb-Projekt und auch PROVIEH unterstützen diese Interessengemeinschaft bei ihrer Strategie.
Konkrete Umsetzungsstrategien werden sodann vom WertKalb-Projekt untersucht und unterstützt: So wurde beispielsweise in Anlehnung an die Bruderhahn-Initiative in der Bio-Legehennenhaltung ein Milchpreiszuschlag für das „Bruderkalb“ zur Förderung der Kälberaufzucht und Mast analysiert. Die Projektergebnisse zeigen, dass je nach verfütterter Milchmenge, Milchleistung, Mastleistung und Preisen, ein Milchpreiszuschlag von 1 bis 7 Cent pro Liter Milch notwendig wäre, um Kälber kostendeckend aufzuziehen. Gemeinsam mit Molkereien und Betrieben mit Direktvermarktung der Milch werden darauf aufbauend Möglichkeiten geprüft, die Aufzuchtkosten über den Milchpreis querzufinanzieren.
In der Umsetzung solcher Strategien auf einem einzelnen Betrieb, in einem geschlossenen Kreislauf, liegen jedoch Grenzen: So ist die Rinderhaltung in Deutschland spezialisiert und viele Milchviehbetriebe haben beispielsweise nicht genug Stall- oder Futterfläche, um alle Kälber großzuziehen. Hierfür bieten sich Erzeugergemeinschaften, aber auch die Kooperation mit Fleisch erzeugenden Mutterkuhbetrieben an, in denen die Kälber bei Ammenkühen aufwachsen. Diese arbeitswirtschaftlich extensive Aufzucht von Bio-Kälbern eröffnet neue Perspektiven, um die bisher in die konventionelle Bullenmast abfließenden Kälber als Bio-Masttiere regional zu mästen. Dies wird beispielsweise von Betrieben der Erzeugergemeinschaft Schwarzwald Bio-Weiderind praktiziert, die einen zunehmenden Anteil ihres Bedarfs mit Kälbern aus der ökologischen Milchviehhaltung decken. Eine solche Zusammenarbeit und Integration von Milch- und Fleischproduktion ist essenziell und wird vom WertKalb-Projekt gezielt untersucht.
Aktuell sind die Kapazitäten verschiedener Kuh-Kalb-Systeme und Alternativen zur konventionellen Mast allerdings zu gering, um die (in Baden-Württemberg) anfallenden Bio-Kälber aufzunehmen. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass nicht alle Bio-Kälber aufgrund der geringen Marktnachfrage nach Bio-Kalb- und Rindfleisch vermarktet werden können. Deshalb stellt ein weiterer Schwerpunkt des Projektes Lösungsansätze durch die Zucht sowie auch ethisch akzeptable Lösungsansätze zur Reduzierung der Kälberzahl dar.
Das Potenzial von innovativen Züchtungsstrategien
Besonders betroffen sind die Kälber von Milchrassen und milchbetonten Zweinutzungsrassen, wie Holstein Friesian, Braunvieh und Jersey, die einseitig auf eine möglichst hohe Milchleistung gezüchtet sind und aufgrund ihres geringen Mastpotenzials vergleichsweise deutlich geringere Marktpreise erzielen als Kälber von sogenannten Zweinutzungsrassen, die sich sowohl für die Milchproduktion als auch für die Mast eignen. Somit sind diese kaum konkurrenzfähig und für die Fleischproduktion weniger nachgefragt. Neben der Nutzung von Zweinutzungsrassen und Gebrauchskreuzungen von Fleisch- und Milchrindern könnte die Züchtung auf eine verbesserte Fleischleistung von Milchrassen die Mastfähigkeit der Kälber verbessern. Bisher gibt es für die Zweinutzungsrassen Fleckvieh und Braunvieh sowie die heimischen Rassen Wäldervieh und Original Braunvieh nur Zuchtwerte für die Fleischleistung von Jungbullen. Um diese Lücke zu schließen, wird das WertKalb-Projekt einen Beitrag zur Einführung einer Zuchtwertschätzung für männliche und weibliche Kälber sowie für Jungrinder von Einnutzungsrassen wie Holstein leisten.
Sperma-Sexing stellt ebenfalls eine mögliche innovative Lösungsstrategie dar: Hierbei werden „männliche” und „weibliche” Spermien separiert, sodass für den Teil der Kühe, die nicht für die Nachzucht der Milchkuhherde vorgesehen sind, gezielt männliche Spermien von Fleischbullen eingesetzt werden können. Damit wird die Mastfähigkeit der Kälber gezielt verbessert und der Überschuss der Bullenkälber von stark milchbetonten Rassen reduziert. Allerdings ist die Nutzung dieser Züchtungstechnologie im ökologischen Landbau weiterhin umstritten und wird vom Demeter Verband abgelehnt. Um hier eine bessere Entscheidungsgrundlage für eine Positionierung der Bio-Verbände zu unterstützen, liefert das WertKalb-Projekt wissenschaftliche Ergebnisse zu den technologischen und ökonomischen Vor- und Nachteilen sowie zur Akzeptanz dieser Technologie bei Landwirten und Verbrauchern.
Die einzige Strategie, die Anzahl der Kälber insgesamt zu reduzieren, ohne die Anzahl der Kühe und somit die Milchmenge zu reduzieren, ist die „verlängerte Laktation” und „verlängerte Zwischenkalbezeit”. Damit Kühe viel Milch geben können, bekommen sie im jetzigen System üblicherweise jedes Jahr ein Kalb. Würden sie nach der Geburt erst später wieder besamt und deutlich länger gemolken und somit länger laktieren, würde die Zeit zwischen zwei Kälbern verlängert und das Aufkommen von Kälbern insgesamt reduziert werden. Da so das Überangebot von Kälbern reduziert werden kann, werden im WertKalb-Projekt die Auswirkungen einer verlängerten Laktation und Zwischenkalbezeit auf die Tiergesundheit, die Wirtschaftlichkeit bei verschiedenen Rassen sowie auf die Reduzierung der Anzahl geborener Kälber untersucht.
Weitere Informationen zum Projekt und den Forschungsarbeiten finden Sie unter www.wertkalb.de.
Dr. Christoph Reiber
INFOBOX
Das interdisziplinäre und durch vielfältige Partnerorganisationen getragene Forschungsprojekt „WertKalb” untersucht wissenschaftlich die Probleme, Handlungsmöglichkeiten und Potenziale rund um die Problematik der „überschüssigen” Kälber aus der Milchproduktion. Es wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gefördert und wissenschaftlich von der Universität Hohenheim und der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen geleitet. So werden in zahlreichen Forschungsarbeiten sowohl Aspekte des Tierwohls, des Managements, der Wirtschaftlichkeit, der Verarbeitung und Vermarktung als auch die Akzeptanz der Lösungsstrategien für Landwirte und Verbraucher interdisziplinär untersucht. Ziel ist es, die Strukturen, die zum Problem der „überschüssigen“ Kälber führen sowie die Stellschrauben zur Verbesserung beziehungsweise Lösung des Problems zu identifizieren. Um die gesellschaftlichen Anforderungen an die „Nutz”tierhaltung und die Realität der landwirtschaftlichen Produktion stärker in Einklang zu bringen, berücksichtigt das Wertkalb-Projekt die Ziele und Interessen der (Land)Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Ein Schwerpunkt des „WertKalb“-Projekts liegt auf der Untersuchung des Marktpotenzials von innovativen Produkten aus ethischen und artgerechten Tierhaltungssystemen. Hierfür werden die Auswirkungen von neuen Marketing- und Vermarktungsstrategien auf die Verbraucherakzeptanz, das Kauf- und Konsumverhalten und die Umsatzentwicklung untersucht. Strategien wie Cross-Marketing, Milch-Fleischkopplung und innovative Conveniencefood-Produkte, zusammen mit der Sensibilisierung und Aufklärung der Konsumenten, sollen in Zusammenarbeit mit Marktpartnern getestet werden. Neue Absatzwege und Wertschöpfungsmöglichkeiten durch die Gemeinschaftsverpflegung, Betriebsgastronomie und durch regionale Händler und Gastronomen werden gesucht. Diese Strategien werden durch die Zusammenarbeit mit den Projektpartnern Edeka Südwest, Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall, rebio, sowie den Bio-Musterregionen Ravensburg, Hohenlohe, Biberach und Freiburg, partizipativ entwickelt.