Kälber ohne Wert?
Zwei Lösungsstrategien mit Zukunftsperspektive
Vielen Milchviehbetrieben und Organisationen ist die Problematik der überschüssigen Kälber bekannt und sie suchen nach Lösungen, um den weiblichen und männlichen Tieren einen nachhaltigen Wert zu geben. Wir möchten Ihnen hier zwei Initiativen vorstellen, die zeigen, wie die Branche dem Problem begegnet.
HeuMilch Bauern: kuhgebundene Aufzucht aller männlichen und weiblichen Kälber
Die Erzeugergemeinschaft der HeuMilch Bauern arbeitet nach den strengen Anforderungen der ganzheitlichen ökologischen Demeter-Erzeugungsweise. Die Rinder tragen stolz ihre Hörner, verbringen den Sommer auf der Weide und fressen artgemäß Gräser und Heu, sodass sie hochqualitative und geschmackvolle Heumilch produzieren. Außerdem wachsen die Kälber an der Seite der Kühe auf und kommen so in den wertvollen Genuss einer artgemäßen Aufzucht. Zunächst war dies jedoch auch bei den HeuMilch Bauern nur den weiblichen Tieren vorbehalten. Es stand den Betrieben zwar natürlich frei auch die männlichen Kälber kuhgebunden aufzuziehen, der größte Teil verkaufte sie aber bereits im Alter von zwei Wochen. Dies haben die teilnehmende Heu- Milch Bauern im „Kuh plus Kalb”- Projekt geändert. Ihre Milch wird unter dem Siegel „Zeit zu zweit“ vermarktet. PROVIEH sprach darüber mit Rolf Holzapfel, dem geschäftsführenden Vorstand der HeuMilch Bauern.
Herr Holzapfel, was hat die HeuMilch Bauern dazu bewogen, die Bullenkälber verpflichtend in die Richtlinie zur Produktion zu übernehmen?
Ich glaube, viele von uns hatten schon immer ein ungutes Gefühl, die Kälber in sehr jungem Alter wegzugeben. Zumal die männlichen Kälber am Markt aufgrund ihrer geringen Zunahmen nicht gerade begehrt waren. Augenöffnend war jedoch auch für uns die zunehmende Aufmerksamkeit, die das Thema Bullenkälber in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit erhielt. Da stellte sich die moralische Frage: Können wir es wirklich verantworten, unsere Kälber so früh zu verkaufen? Wissen wir, was mit ihnen passiert? Zunächst war das alles ein ganz schönes Wagnis, aber mittlerweile wirkt sich dieses Haltungssystem meist sehr positiv auf die Gesamtherde aus und auch die Kälber entwickeln sich sehr gut.
Haben die Verbraucher aktiv danach verlangt und wie ist dies am Markt angekommen?
Ehrlich gesagt haben wir die Resonanz, die uns am Markt begegnet ist, deutlich unterschätzt. Wir haben damit angefangen, auf unseren Molkereiprodukten auf unsere kuhgebundene Aufzucht der Kälber hinzuweisen. Die Verbindung von Milch- und Fleischproduktion ist jedoch etwas, was weiterhin im Bewusstsein der Verbraucherschaft wachsen muss und auch wird. Ich denke, da dürfen auch wir lernen, dass wir unseren Kundinnen und Kunden viel mehr zutrauen können. Bei jedem Joghurt und jedem Käsebrot fällt irgendwann auch das Fleisch des milchproduzierenden Tieres oder des für die Milch produzierten Kalbes an. Mit unserem „Zeit zu zweit“-Siegel garantieren wir den Kontakt zwischen Mutter beziehungsweise Amme und Kalb – und eine ethisch vertretbare Haltung aller Tiere. Das Verstehen die Verbraucher und honorieren es auch gerne.
Was sind die größten Herausforderungen für Sie im Hinblick auf die Bullenkälber?
Zum einen beschäftigt uns die Produktionstechnik sehr. Wir sind bisher alle Milchviehhalter und müssen uns an die neuen Anforderungen einer Kälberaufzucht beziehungsweise -mast erst gewöhnen. Individuelle betriebliche Voraussetzungen ermöglichen bei Betrieb A zum Beispiel den unkomplizierten Anbau einer Kälberbox, bei Betrieb B muss man aber ein bisschen um die Ecke denken. Wir sind da im Austausch und sehr dankbar für unsere einfallsreiche und vielfältige Gruppe. Neben technischen Dingen besteht auch eine Herausforderung in der Vermarktung des Fleisches. Unser Kalbfleisch ist weniger weiß, als man es vielleicht kennt, da die Kälber auch viel Raufutter zu sich nehmen. Selbst der Begriff Kalbfleisch passt hier im Grunde nicht mehr, da die „Kälber“ bereits sehr gut entwickelt sind und 200 bis 250 Kilogramm wiegen. Im Grunde sind es junge Rinder. Gleichzeitig haben wir damit ein „neues“ Produkt: Kalbfleisch mit geschmacklicher Tendenz Richtung Rindfleisch. Dafür müssen wir auch unsere Kundinnen und Kunden erst begeistern.
Was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Stellschrauben, um Milchviehbetrieben einen Anreiz zu geben, sich der Bullenkälber anzunehmen?
Zunächst bräuchte es einen Wissensaustausch unter Praktiker*innen und den Beratungsdiensten. Auch die Stallbauberatung bewegt sich noch im relativen Neuland, was gute, flexible Lösungen für kuhgebundene Aufzucht angeht. Ähnlich wie die Umstellung auf Bio erfordert auch die Umstellung auf mutter- beziehungsweise ammengebundene Kälberaufzucht einige Anstrengungen. Was man dabei gewinnen kann, ist aber nicht nur die Gewissheit, die Verantwortung für die eigenen Tiere von der Geburt bis zur Schlachtung zu übernehmen, sondern auch ein völlig neues Erleben der bis dato reinen Milchkühe. Manche Altkühe erfüllen die Rolle der Amme mit einer Leidenschaft, die unglaublich ist. Auch die betriebseigenen Zuchtkriterien können sich in Bezug auf Mütterlichkeit/Ammentauglichkeit verändern. Ein wesentlicher Anreiz für Veränderungen dieser Art besteht natürlich in der Vergütung des Mehraufwands für die Betriebe von Anfang an. Die Milch- und Fleischvermarkung muss in Zukunft viel mehr gemeinsam gedacht werden. Ich bin mir sicher, dass hier beide Sortimentsbereiche voneinander profitieren können. Wenn dies stattfindet, steht einer Umstellung auf mutterbeziehungsweise ammengebundene Kälberaufzucht nicht mehr viel im Wege.
Was ist Ihre Vision für die Milchviehhaltung in Deutschland?
Da wir in Deutschland nach wie vor zu viel Milch produzieren, wäre es meiner Ansicht nach sinnvoll, die hier produzierten Kälber auch mit ebendieser Milch zu versorgen. Kuhgebundene Aufzucht hat neben der Verringerung der Kuhzahl auch den Effekt einer Verlagerung der Zucht auf resilientere Zweinutzungsrassen, sodass wirmittelfristig auch nur noch Bullenkälber mit guten Masteigenschaften haben. Qualität über Quantität sollte das neue Mantra der Milchviehhaltung werden.
Vielen Dank Herr Holzapfel!
Bioland-Berater untersucht Masteigenschaften von Kreuzungstieren
Auch die ökologischen Milchviehbetriebe sind mit dem Problem der überschüssigen Kälber konfrontiert. Die Nachfrage nach ökologischen Milchprodukten ist in den letzten Jahren stark angestiegen, die Nachfrage nach Bio-Rindfleisch ist wiederum gleichbleibend klein geblieben. Somit entsteht im ökologischen Markt ohnehin ein Überhang dieser Kälber. Gleichzeitig sind aber auch viele Öko-Milchviehbetriebe auf milchbetonte Zuchtlinien eingestellt, was die Mast dieser Milchviehkälber unter einen schlechten Stern stellt. Dem Bioland-betriebsberater Daniel Bischoff ist diese Problematik ein Dorn im Auge. Daher hat er im Rahmen eines Forschungsprojektes die Masteigenschaften und wirtschaftlichen Auswirkungen zwischen milchbetonten Zuchtlinien, Kreuzungstieren und Zweinutzungsrindern verglichen und quantifiziert. Dafür analysierte er unter anderem die Tageszunahmen, Mastendgewichte, die Kosten des Verfahrens, verglich die Kälberaufzucht im Iglu und an der Amme. Auch berechnete er den minimalen Kilopreis für die unterschiedlichen Rassen sowie auch über eine Quersubventionierung über den Milchpreis. Seine wichtigste Erkenntnis ist, dass Bio-Kälbermast sogar auf der Weide funktionieren kann. Das tierungerechte Verfahren der intensiven Kälbermast ist also nicht nötig. Die Masteigenschaften sind bei den milchbetonteren Linien jedoch deutlich schlechter und letztlich kostspieliger. Außerdem wird das von der Fleischbranche angestrebte Schlachtgewicht von 140 bis 160 Kilogramm nur mit fleischbetonteren Kreuzungs- oder Zweinutzungstieren realisiert, nicht von den milchbetonten Holstein-Friesian Rindern. Seine Erkenntnisse trägt er im Rahmen der Bioland-Beratung aktiv an die Betriebe heran und versucht sie von Zweinutzungsrindern zu überzeugen.
Herr Bischoff, wie nehmen Sie die Stimmung auf den Betrieben bezüglich der Geschwisterkälber wahr?
Das Dilemma der überschüssigen Kälber ist allen Bio-Milchviehhaltern bekannt und hängt wie ein Schleier über der Bio-Milchproduktion. Für viele Bio-Milcherzeuger ist das kein zufriedenstellender Zustand und der Wunsch nach einer Aufzucht und Vermarktung im Biobereich wird zunehmend größer.
Weshalb und wie raten Sie Ihren Betrieben zum Umstieg auf Zweinutzungsrinder?
Wir haben in unserem Mastversuch sehr eindrücklich gesehen, dass die Kreuzungstiere von Betrieben, wo die Muttergenetik schon fleischbetonter ist, zum Beispiel Rassen wie Fleckvieh oder Deutsch Schwarzbuntes Niederungsrind, sich auch die Kälber wesentlich besser entwickelt haben und nachher markttaugliche Schlachtkörper erzielten. Daher führt meines Erachtens kein Weg an einer stärkeren Priorisierung von Zweinutzungsrindern vorbei.
Wo muss der Weg für die Bio-Milchviehhaltung langfristig hingehen?
Die Bio-Milchviehhaltung boomt, die Nachfrage im Markt steigt kontinuierlich. Es wäre der einfachste Weg, die Kälbermast über die Milch quer zu subventionieren, da über die Biomilch die Wertschöpfung im Markt stattfindet. Hierfür bedürfte es jedoch einem Mehrpreis von fünf bis sieben Cent je Liter Milch, um die Kosten in der Mast zu decken. Hört sich erstmal gar nicht viel an. Doch kenne ich aktuell keine größere norddeutsche Molkerei, die sich diesen Schritt vorstellen kann. Wir dürfen den ganzheitlichen Ansatz dabei nicht vergessen. Zu jedem Liter Bio-Milch gehört auch ein Stück Bio-Rindfleisch. Dafür müssen die Bio-Milchviehbetriebe durch die Einkreuzung von Fleischrassen oder durch eine Zweinutzungskuh die Voraussetzung für geeignete Masttiere schaffen. Die Kunden müssen allerdings auch ihren Anteil dazu beitragen, indem sie mehr Bio-Rindfleisch kaufen.
Vielen Dank Herr Bischoff!
Die Interviews führte Anne Hamester
09.04.21