Wege zu einer nachhaltigen und tiergerechten Milcherzeugung

Vor der Milch im Müsli oder im Frühstückskaffee stehen die Kuh – und ihre Kälber.

Schauen wir uns das Leben der jungen Holstein Friesian Kuh – nennen wir sie Reni – einmal genauer an. Mit 28 Monaten (durchschnittlich sind es 24 bis 30 Monate) hat Reni nach neun Monaten Tragzeit ihr erstes Kalb bekommen. Sie leckt das kleine Bullenkalb trocken und es darf die ersten zwei Stunden bei ihr sein und am Euter saugen. Reni hat Glück, dass sie wenigstens etwas Zeit mit ihrem Sohn in der Abkalbebox verbringen darf, bis der Landwirt kommt. Er melkt per Hand die Kolostralmilch in einen Nuckeleimer und füttert den Kleinen noch einmal. Diese Erstmilch, auch Biestmilch genannt, ist überaus wichtig für das Kalb, denn sie schützt vor Infektionen und unterstützt den Darm des neugeborenen Tieres. Dann nimmt der Landwirt Renis Sohn in einer Schubkarre mit zu den anderen neugeborenen Kälbern und legt ihn in sein eigenes Iglu. Verzweifelt ruft Reni nach ihm und sucht vergebens die Box ab. Renis Milch wird nun für den Menschen gemolken, während ihr Sohn einen Milchaustauscher erhält. Zirka 60 Tage später wird die Kuh schon wieder besamt. Es folgt jährlich ein weiteres Kalb, so lange bis nichts mehr geht. 

(Deutsche) Milchkühe sterben früh

An die 4,2 Millionen Kühe produzieren in Deutschland rund 33.500 Millionen Liter Milch pro Jahr. Jeder Bundesbürger trinkt im Jahr durchschnittlich knapp 55 Liter Milch und jeder isst durchschnittlich fast 24 Kilogramm Käse. Hinzu kommen die zahlreichen anderen Milchprodukte sowie milchhaltige Lebensmittel. Zusätzlich geht fast die Hälfte der produzieren Milch in den Export.
Bei einer eigentlich möglichen Lebensdauer von 20 Jahren werden die Hochleistungsmilchproduzenten vor allem aufgrund von Unfruchtbarkeit, Euter- sowie Klauenerkrankungen mit durchschnittlich 4,6 Jahren ausgemustert und geschlachtet.

Immer wieder zeigen aktuelle Tierschutzskandale in Milchviehbetrieben, dass noch viel Platz nach oben ist, wenn es um das Tierwohl geht.

Das Kälberproblem

Jedes Jahr ein Kalb: Das macht mehr als vier Millionen pro Jahr, damit das „weiße Gold“ weiter fließt. Der Tierbestand auf den Betrieben wird permanent vor allem aus der eigenen Nachzucht stabil gehalten. Wird eine Milchkuh gemerzt (als zur Zucht oder Nutzung ungeeignet ausgesondert, also getötet) hat bereits ein junges Milchrind – wie unsere Reni – zum ersten Mal gekalbt und „ersetzt“ die unrentabel gewordene ältere Kuh. Am Ende bleiben aber immer noch sehr viele weibliche Kälber eines Jahrgangs “übrig“. Können sie nicht als Zuchttiere an andere Betriebe verkauft werden, gibt es noch einen Zuchttier-Markt im Ausland. Alle weiteren überschüssigen weiblichen Milchkälber ereilt dasselbe Schicksal wie ihre jährlich zwei Millionen männlichen Artgenossen. Sie werden im Idealfall auf ihrem Geburtshof gemästet, wie Renis Bullenkalb, aber zu einem großen Teil an Großmäster im In- und Ausland verkauft. 

Drittlandtransporte

Besonders kritisch sieht PROVIEH e.V. den Transport der jungen Kälber sowie die Langstrecken-Transporte innerhalb und außerhalb der EU. Offiziell führt Deutschland nur noch Zuchttiertransporte und keine Schlachttiertransporte außerhalb Europas mehr durch. Aber die Realität sieht anders aus. Zum Beispiel gelangen ehemals deutsche Kälber und auch ältere Rinder als Schlachttiere nach dem Verkauf an andere europäische Länder in Drittländer. Zahlreiche Berichte, Film- und Fotoaufnahmen dokumentieren eklatante Verstöße gegen etliche europäische Rechtsnormen. PROVIEH fordert gemeinsam mit anderen Verbänden ein klares STOPP für dieses Tierleid!

Ist Biomilch die bessere Wahl? 

Weniger Milch und wenn dann Bio? Biokälber erhalten keinen Milchaustauscher, sondern werden mit Vollmilch aufgezogen. Insgesamt erfreuen sich ihre Mütter an mehr Platz (mindestens sechs Quadratmeter Stallfläche sowie mindestens 4,5 Quadratmeter zusätzliche Außenfläche pro Tier), Weidegang oder zumindest ein Auslauf sind vorgeschrieben und die ganzjährige Anbindehaltung unzulässig. Wenn es uns allerdings um das Schicksal der Kälber geht, müssen wir ganz klar sehen, dass auch Bio-Kühe Mütter sind. Auch ihre Kälber werden zu einem großen Teil schnell von den Müttern getrennt. Auch sie können nicht alle im Betrieb bleiben, sei es als spätere Milchkuh oder als Mastrind. Und somit werden auch überzählige Biokälber über konventionelle Vertriebswege vermarktet. Egal wie gut es ihren Müttern ging, gehen viele Bio-Kälber wie ihre konventionellen Leidensgenossen auf Sammeltransporte zur Weitermast. 

Neue Wege

PROVIEH fordert eine Änderung des Systems. Denn in diesem alten „System Milch“ ist nicht genug Raum für das Tier selbst. Zu eng ist der Spielraum für den Landwirt und nicht jeder kann oder will eigeninitiativ neue Wege erkunden und beschreiten. Doch nur so lässt sich etwas zum Guten verändern. Gemeinsam mit dem Landesverband des deutschen Tierschutzbundes und dem Tierschutzbeirat Schleswig-Holstein hat PROVIEH Vorschläge zusammengetragen, die sich auf alle Bundesländer übertragen ließen: 

  • Erarbeitung eines Konzepts auf Landesebene, mit dem Ziel einer Reduktion der Überschussproduktion in der Milchwirtschaft und zum Aufbau einer nachhaltigen Milchproduktion. 
  • Reduzierung der Milchleistung in den ersten beiden Laktationen und ein Fokussieren auf die Lebensleistung
  • Möglichkeiten zur Erhöhung der Zeitspanne zwischen den einzelnen Kalbungen (Zwischenkalbezeit) prüfen (weniger Kälber pro Kuh)
  • Stärkung des Milchpreises
  • Förderprogramme für Zweinutzungsrinder, Fokus auf Lebensleistung
  • Förderung von regionalen Mast-, Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen für männliche Nachkommen von Milchkühen
  • Eine besondere Milch kann vom Verbraucher anders wertgeschätzt werden und das Mehr an Tierwohl wird entlohnt.

Glücklicherweise gibt bereits einige lobenswerte Projekte wie etwa im Norden die Pro Weideland Charta, die PROVIEH 2017 mitzeichnete. Derzeit verarbeiten fünf Molkereien die Milch von Kühen, die an mindestens 120 Tagen im Jahr für mindestens sechs Stunden auf mindestens 1.000 Quadratmetern Grasfläche aktiv weiden dürfen. Milch, Butter und Käse mit dem Weideland-Logo erhalten Verbraucher bequem im Lebensmitteeinzelhandel.

In Süddeutschland vermarkten die Demeter HeuMilch Bauern „Milch von Kühen, die sich um Kälber kümmern“, also aus mutter- und ammengebundener Kälberaufzucht. PROVIEH begleitet dieses wundervolle Projekt als Kooperationspartner. 

Beide Projekte haben gemein, dass der Mehrwert an Tierwohl auch wertgeschätzt wird und der Landwirt für sein „Gutes tun“ be- bzw. entlohnt wird. Diese Leuchtturmprojekte zeigen, was möglich ist.

Fakt ist auch, dass wir als Verbraucher uns jeden Tag entscheiden können, ob und wie viel Milch und Milchprodukte wir konsumieren und wenn ja, welche Art der Erzeugung wir den Milchkühen zumuten wollen.

Kathrin Kofent

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